Kaum eine Reform der Ampel-Regierung hat die CSU so aufgeregt wie die Novellierung des Wahlrechts. Vor allem die Abschaffung der sogenannten Grundmandatsklausel bereitete der Partei Existenzsorgen. Das Bundesverfassungsgericht urteilte schließlich Ende Juli, dass die Regelung weiter gelten müsse. Demnach zieht eine Partei, die drei Wahlkreise gewinnt, auch dann weiterhin in den Bundestag ein, wenn sie an der Fünfprozenthürde scheitert. „Sonst hätte irgendwann in Zukunft der CSU die Vernichtung auf Bundesebene gedroht“, glaubt der Passauer Politologe Heinrich Oberreuter.
Doch noch immer sorgt die 2023 verabschiedete Wahlrechtsreform bei den Christsozialen für Aufruhr. Denn anders als bei früheren Wahlen erhält nun jede Partei nur noch so viele Sitze, wie ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Falls eine Partei über die Erststimmen mehr Wahlkreise gewinnt, als ihr gemessen am Zweitstimmenergebnis an Sitzen zustehen, gehen die Wahlkreissieger der jeweiligen Partei mit den schlechtesten Wahlergebnissen leer aus. Wer einen Wahlkreis für sich entscheidet, zieht also nicht mehr automatisch in den Bundestag ein.
Durch die Streichung der Überhangmandate fallen zudem die Ausgleichsmandate weg. Damit wollten SPD, Grüne und FDP den Bundestag verkleinern und das Verhältniswahlrecht stärken.
Tückisches neues System
Zumindest aus Sicht von SPD und Grünen wohl ein netter Nebeneffekt: In Bayern könnte das neue Wahlrecht je nach Wahlergebnis den Verlust einer Vielzahl von Mandaten der Christsozialen bedeuten. Hätte 2021 bereits das neue Wahlrecht gegolten, wären neun der 45 CSU-Abgeordneten nicht in das Parlament eingezogen.
Acht der neun Abgeordneten, die den Sprung nach Berlin nicht geschafft hätten, weil sie im Vergleich zu anderen CSU-Wahlkreissiegern zu wenige Stimmen bekamen, haben ihren Wahlkreis im urbanen Raum. Sieben von ihnen kandidierten in einer Großstadt – drei davon in München. Wolfgang Stefinger (München-Ost), Stephan Pilsinger (München-West/Mitte) und Bernhard Loos (München-Nord) hätten 2021 gemäß neuem Recht kein Mandat errungen.
Aufgrund der guten Umfrageergebnisse für die CSU stehen die Chancen für Stefinger, wieder nach Berlin zu dürfen, allerdings sehr gut: 2021 hatte er in seinem Wahlkreis 32 Prozent eingefahren. Pilsinger hatte dagegen mit 27 Prozent vor drei Jahren nur knapp vorne gelegen und muss nun erneut bangen. Knapp wie immer könnte es im Münchner Norden werden. Dort nominierten die örtlichen Christsozialen den Gesundheitsexperten Hans Theiss statt Loos als Direktkandidaten. Letzterer war 2021 mit 26 Prozent derjenige CSU-Wahlkreissieger mit dem bayernweit schwächsten Ergebnis. Auch für Theiss könnte es eine Zitterpartie werden.
Wie viele Abgeordnete die CSU letztlich nach Berlin schicken kann, hängt von mehreren Faktoren ab. Wenn etwa BSW, FDP, Linke sowie Freie Wähler ins Parlament einziehen, braucht die CSU ein besseres Ergebnis. Klar ist: Würden die Christsozialen in Bayern bei der nächsten Bundestagswahl wieder nur knapp 32 Prozent wie im Herbst 2021 einfahren, würde in jedem Fall eine Vielzahl an Abgeordneten ihre direkt gewonnenen Wahlkreise nicht im Bundestag vertreten dürfen. Zuletzt stand die CSU in einer Umfrage bei 43 Prozent. Insidern zufolge ist es deshalb durchaus möglich, dass alle direkt gewählten CSU-Abgeordneten den Sprung nach Berlin schaffen.
Sollte die Partei allerdings spürbar unter 40 Prozent landen oder sollten alle im Bundestag vertretenen Parteien erneut in den Bundestag einziehen, könnte für mehrere Christsoziale trotz Wahlkreissieg der Weg nach Berlin versperrt bleiben. Gleiches gilt, wenn die Partei anders als letztes Jahr bei der Landtagswahl alle mittlerweile 47 Wahlkreise erobern kann. „Aufgrund des geänderten Wahlrechts drohen tatsächlich vor allem in den Großstädten sogenannte verwaiste Wahlkreise“, sagt Jörg Siegmund, Experte für Parlamentarismus- und Wahlforschung an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, der Staatszeitung.
Denn weil urbane Wahlkreise zwischen den Parteien häufig sehr umkämpft seien, erziele dort „oft auch der Wahlkreissieger nur einen relativ geringen Erststimmenanteil und läuft damit Gefahr, das Mandat wegen der geforderten Zweitstimmendeckung doch nicht zu erhalten“. Ob im Gegenzug mehr Kandidat*innen anderer Parteien in den Großstädten über die jeweiligen Landeslisten in den Bundestag einziehen könnten, sei unsicher. „Unterm Strich drohen damit die Großstädte tatsächlich schwächer repräsentiert zu werden“, sagt der Experte für Wahlforschung.
Tatsächlich könnte es zumindest in München passieren, dass nicht allzu viele Abgeordnete anderer Parteien den Sprung ins Parlament schaffen. In der Landeshauptstadt wird vermutlich SPD-Mann Sebastian Roloff seinen Listensitz behalten. Er steht auf Platz eins der Oberbayern-Liste. Die zweite Münchner Genossin mit Bundestagsmandat, Claudia Tausend, tritt nicht mehr an. Eher geringe Chance hat Philippa Sigl-Glöckner auf ein Direktmandat im Münchner Norden.
Bei den Freien Wählern und der AfD liegt die Priorität bei der Listenaufstellung traditionell nicht unbedingt auf den Großstädten. Und beim BSW schaffte vergangenes Wochenende beim Gründungsparteitag des Landesverbands überhaupt niemand aus München, Nürnberg oder Augsburg den Sprung in den Landesvorstand, weshalb deren Chancen auf einen aussichtsreichen Platz auf der Landesliste nicht allzu gut stehen dürften. Bei Linken und FDP ist derweil höchst unsicher, ob sie den Sprung ins Parlament überhaupt schaffen. Immerhin bei den Grünen gibt es in der Landeshauptstadt mehrere sehr aussichtsreiche Kandidaten wie Dieter Janecek und Jamila Schäfer.
Politologe Oberreuter sieht jedenfalls die Gefahr, dass die bayerischen Großstädte künftig schwächer im Bundestag repräsentiert sein könnten, „weil die Konkurrenz dort größer und die erzielten Prozente geringer sind“.
In der CSU lag der Fokus der Politik in den vergangenen Jahren ohnehin mehr auf dem Land und Kleinstädten als auf den Großstädten. Dieser Trend kann sich Oberreuter zufolge verfestigen. „Dem müsste dann bewusst entgegengesteuert werden, um keine Repräsentationslücken entstehen zu lassen“, sagt der konservative Politikwissenschaftler.
Die CSU in der Zwickmühle
Für den Politikwissenschaftler Siegmund ist klar: „Die CSU steckt in einer Zwickmühle.“ Sie müsse einerseits die ländlichen Regionen im Blick behalten, weil ihr dort durch die Freien Wähler und teilweise auch die AfD politische Konkurrenz erwächst. Andererseits könne es ihr aufgrund des geänderten Wahlrechts künftig schwerer fallen, Bundestagsmandate in den Großstädten zu erringen, sodass sie auch hier stärker Präsenz zeigen müsse. „Eine noch stärkere Fokussierung auf den ländlichen Raum wäre dabei nicht hilfreich“, glaubt er.
Martin Gross, der an der Universität München über Parteienwettbewerb forscht, geht davon aus, dass es „eine weitere Verschiebung weg von großstädtischen Themen bei der CSU geben wird“. Jedenfalls dann, wenn mehrere großstädtische Abgeordnete den Einzug ins Parlament verpassen. „Die neu gewählten Abgeordneten sprechen in ihrer politischen Arbeit vor allem ihre Wählerinnen und Wähler im Wahlkreis an und bringen deren Themen auf die politische Agenda“, so der Politologe. (Tobias Lill)
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