Am Sonntag findet in Deutschland die Europawahl statt. Anlass für eine Bestandsaufnahme: Welche Vorteile hat das EU-Parlament den Bürgern gebracht, was hat es versäumt, was war besonders strittig und was unnötig? Ein Überblick.
Erfreulichste Beschlüsse:
Der Plastiktütenverbrauch hat sich in Deutschland in den vergangenen drei Jahren halbiert. Der Grund: 2015 beschloss das Europaparlament, die Nutzung von Plastiktüten in der EU per Gesetz einzudämmen. In Deutschland einigten sich Umweltministerium und Handelsverbände auf eine Selbstverpflichtung mit großer Wirkung. Seit Juni 2016 muss man in deutschen Geschäften für Plastiktüten in der Regel zahlen – und viele Kunden verzichten auf sie. Ab 2021 ganz aus dem Handel verschwinden sollen dagegen Einwegprodukte aus Plastik wie Strohhalme oder Wegwerf-Besteck. Angesichts der enormen Menge an Plastikmüll in den Meeren brachte das EU-Parlament im März 2019 das Einmal-Plastikverbot auf den Weg. Endgültig grünes Licht gab es dafür diese Woche von den EU-Staaten.
Schön für Handynutzer: Seit der Abschaffung der Roaming-Gebühren im Sommer 2017 zahlen Reisende in EU-Ländern für die Nutzung ausländischer Handynetze dieselben Preise wie zu Hause. Telefonieren, SMS verschicken oder im Internet surfen – dank EU-Parlament nun auch im EU-Ausland ein Unterfangen ohne Kostenfallen.
Eine durchaus bahnbrechende Errungenschaft ist die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) aus dem Jahr 2018. Personenbezogene Daten dürfen seither nur mit Einwilligung und für festgelegte Zwecke gespeichert werden. Gegner sahen in der DSGVO ein Bürokratiemonster und befürchteten eine Abmahnwelle. Die Panik war unbegründet, in Deutschland setzen die Behörden auf Aufklärung und zeigen sich bei der Verhängung von Bußgeldern bei Datenschutzverstößen bislang zurückhaltend. Auch wenn gerade kleinere Unternehmen noch mit der Umsetzung kämpfen, die DSGVO hat das Zeug dazu, eine europäische Erfolgsgeschichte zu werden – mit internationaler Strahlkraft: Immer mehr Staaten in den USA zum Beispiel geben sich einen Datenschutz nach europäischem Vorbild.
Grenzenlos gucken und hören: Nachdem das EU-Parlament Ende März den Entwurf einer Richtlinie über Fernseh- und Hörfunkprogramme im Netz beschlossen hatte, gab auch der Europäische Rat, also das Gremium der EU-Staats- und Regierungschefs, grünes Licht dafür. Somit können europäische Rundfunkstationen bestimmte Sendungen leichter in ihrem Live-Fernsehen oder als Abrufdienst in Mediatheken grenzüberschreitend online anbieten. Damit entfällt das zuvor praktizierte Geo-Blocking. Dieses verhinderte, dass Eigenproduktionen wie etwa die „Tagesschau“ EU-weit verfügbar waren. Berichte über Sportereignisse sind von der Neuregelung weiterhin ausgenommen.
Eine Entscheidung, die das Ansehen des EU-Parlaments stärkt, fiel im Januar 2019: Alle Ausschussvorsitzenden im EU-Parlament müssen künftig auflisten, welche Lobbyisten sie treffen. Ziel der Aktion: Sie sorgt für mehr Transparenz und schafft Vertrauen in die europäischen Institutionen. Indem das Europaparlament im Internet offenlegt, mit welchen Interessenvertretern die Abgeordneten im Vorfeld von Gesetzesberatungen sprechen – welche Lobbyisten also Einfluss auf die Entstehung von Gesetzen nehmen – ,soll der Verdacht von Mauschelei ausgeräumt werden.
Größtes Versäumnis:
Ausgerechnet für eine der größten Herausforderungen – die weltweiten Flüchtlingsströme – fand die EU bislang keine praktikable Lösung. Deutschland wünscht sich, dass sich alle Mitgliedsstaaten an der Aufnahme von Geflüchteten beteiligen. Dagegen sperren sich diverse Länder, vor allem solche in Osteuropa. Eigentlich regelt die sogenannte Dublin II-Verordnung die Aufnahme von Flüchtlingen. Danach ist jenes EU-Land für Flüchtlinge zuständig, in dem die Migranten zuerst EU-Boden betreten. Das aber überfordert Länder wie Italien, Malta, Griechenland und Spanien – Staaten, in denen Flüchtlinge auf dem Seeweg nun mal ankommen – während andere Staaten aufgrund ihrer geografischen Lage fein raus sind. Helfen würde eine Reform der Dublin-Verordnung. Doch weil vor allem Osteuropa kein Interesse an einer solidarischen Verteilung der Migranten hat, wird es dazu wohl nicht kommen.
Unnötigste Initiative:
Nicht sehr aussichtsreich und zudem völlig unsinnig: der Beschluss, die Zeitumstellung 2021 abzuschaffen. Viele EU-Politiker dürften noch bereuen, dass dieses Fass aufgemacht wurde. Denn ungeklärt bleibt ja, ob dann künftig das ganze Jahr über Sommer- oder aber Winterzeit gelten soll. Die Mitgliedsstaaten müssten sich hier auf eine einheitliche Lösung einigen. Ein nahezu unmögliches Unterfangen. Der CSU-Europapolitiker Markus Ferber bringt es so auf den Punkt: „Die Menschen wollen im Winter Winterzeit und im Sommer Sommerzeit. Aber dazwischen keine Zeitumstellung – das können wir nicht leisten.“ Irrwitzig auch, dass sich das EU-Parlament bei seiner Entscheidung auf eine Online-Umfrage stützte, in der sich zwar 84 Prozent der Teilnehmer für eine Abschaffung der Zeitumstellung aussprachen. Allerdings hat sich nur eine kleine Minderheit der EU-Bürger daran beteiligt: Lediglich 4,5 Millionen der rund 512 Millionen EU-Bürger stimmten ab. Wahrscheinlichstes Szenario: Es bleibt alles so, wie es ist.
Größter Aufreger:
So heftig umstritten wie die Urheberrechtsreform war kein anderes Thema. Besonders im Visier der Gegner: Uploadfilter, also Programme, die rechtlich geschützte Inhalte schon beim Hochladen ins Internet erkennen und aussortieren. Hunderttausende Menschen gingen in den deutschen Städten auf die Straße. Hunderte Experten warnten vor der Gefahr der Zensur. Die Befürchtung: Was als Waffe gegen Urheberrechtsverstöße von Plattform-Riesen wie Youtube und Facebook gedacht ist, könnte das halbe Internet und auch legitime Inhalte treffen. Die Reform passierte Ende März 2019 das EU-Parlament und muss nun binnen zwei Jahren in den Mitgliedsstaaten umgesetzt sein. Droht jetzt das Ende der Freiheit des Internets? In jedem Fall droht das Ende der Freiheit milliardenschwerer US-Konzerne, ungestraft mit urheberrechtlich geschütztem Material Geld zu verdienen. Dieser Aspekt kam in der aufgeheizten Debatte eindeutig zu kurz. Die Folgen der Richtlinie für das Netz selbst sind dagegen noch kaum absehbar. Sie hängen stark von der Ausgestaltung des nationalen Rechts ab.
(Angelika Kahl, Waltraud Taschner)
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