Christoph Weller ist Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Augsburg – trotz steigender Nachfrage der bislang einzige in Bayern. Im BSZ-Interview erklärt der Professor, wie eine gewaltsame Eskalation von Konflikten verhindert werden kann – sei es in der Sozialarbeit oder zwischen verschiedenen Staaten.
BSZ: Herr Weller, hat Sie als Friedens- und Konfliktforscher der russische Angriffskrieg auf die Ukraine überrascht?
Christoph Weller: Ja. Aber die Eskalation politischer Konflikte folgt ja keinem bekannten Drehbuch, sondern sozialen Eigendynamiken und nichtvorhersehbaren politischen Entscheidungen. Daraus folgen ständig Überraschungen im Konfliktgeschehen und ernsthafte Prognosen sind unmöglich. Aus Sicht der Friedens- und Konfliktforschung gibt es Tausende von Konflikten auf der Welt, die in der Gefahr stehen, gewaltsam zu eskalieren. Eine differenzierte Einschätzung zum jeweils aktuellen Eskalationspotenzial einzelner Konflikte erfordert immer auch die Einbeziehung von Regionalexpertise.
BSZ: Was können Länder wie Deutschland tun, damit Konflikte nicht gewaltsam eskalieren?
Weller: In vielen Fällen stehen der Politik keine Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, auf eine drohende Konflikteskalation einzuwirken. Leider gibt es nicht wenige Fälle, in denen die entscheidenden Akteure von einer Konflikteskalation sogar profitieren – da gibt es dann wenig, letztlich keine Präventionsmöglichkeiten, vor allem nicht von außen.
BSZ: Die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg war, dass Zusammenarbeit und internationale Verflechtungen vor kriegerischen Konflikten schützen können. War das ein Trugschluss?
Weller: Es geht hier ja nicht um einen Konflikt, der Anfang dieses Jahres entstanden wäre und dann unmittelbar als Krieg ausgetragen wird. Zum Verständnis von Krieg, Konflikteskalation und -deeskalation ist es wichtig, die Austragungsform eines Konflikts von seinem Gegenstand, also worüber Uneinigkeit herrscht, zu unterscheiden: Mit Uneinigkeiten lässt sich sehr unterschiedlich umgehen. Mit den großen Differenzen zwischen Ost und West wurde in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg teilweise eskalativ, vor allem aber deeskalativ umgegangen, etwa im KSZE-Prozess, der dann für das Ende des Ost-West-Konflikts entscheidend war.
BSZ: Die jährlich veröffentlichten „Friedensgutachten“ aus den vier großen deutschen Friedensforschungsinstituten in Frankfurt, Hamburg, Bonn und Duisburg gehen davon aus, dass sich die Ukraine durch den Krieg zu einem Drehkreuz des internationalen Waffenhandels entwickeln wird und die Waffen auch in anderen Konfliktregionen auftauchen. Steigen dadurch die weltweiten Konflikte?
Weller: Nein, nur die Gefahr für deren mögliche gewaltsame Austragung steigt. Wenn ein entsprechendes Waffenpotenzial vorhanden ist, ergibt sich daraus für die beteiligten Konfliktparteien viel eher die Option, sich für die gewaltsame Austragung des Konflikts zu entscheiden. Das ist ein weiteres Beispiel, wie wichtig die Unterscheidung von Konflikt und Krieg ist und dass es vielfältige Möglichkeiten gibt, die kriegerische Austragung von Konflikten zu verhindern oder zumindest die entsprechenden Eskalationen nicht zu befördern.
BSZ: Welchen Beitrag kann die Friedens- und Konfliktforschung dazu leisten?
Weller: Die Friedensgutachten sind ein wichtiger Beitrag für die Öffentlichkeit, um nicht allein auf die Informationen aus Massenmedien und Talkshows angewiesen zu sein. In Medien dominiert zumeist das Entweder-oder und es fehlt das Sowohl-als-auch. Wenn es um Konflikte geht, verengt sich der öffentliche Diskurs oft auf extrem vereinfachte Schwarz-Weiß-Bilder, weil die meisten Argumente moralisch und politisch aufgeladen werden. Das wird den Dilemmata gewaltsam ausgetragener Konflikte nicht gerecht.
"Oft gibt es keine richtigen, sondern nur schlechte Optionen"
BSZ: Welche Dilemmata meinen Sie?
Weller: Werden Angegriffene geschützt, kann dies trotzdem als Aggression wahrgenommen werden und damit weitere Eskalation in der Konfliktaustragung hervorrufen. Dennoch ist es nicht besser, aufgrund dieser Gefahr auf den Schutz zu verzichten. Der genannte Zwiespalt von Entscheidungen in Konfliktsituationen ist unauflöslich – eben ein Dilemma. Differenzierte Darstellungen der Dilemmata, in denen es eben keine „richtigen“, sondern nur schlechte Optionen gibt und deren Bewertung sich auch wissenschaftlich nicht vornehmen lässt, sind aber dringend notwendig, wenn in Konflikten gute politische Entscheidungen getroffen werden sollen.
BSZ: Hört die Politik ausreichend auf die Analysen aus der Friedens- und Konfliktforschung?
Weller: Forschende reden und die Politik hört zu – das entspricht nicht meinem Bild von einer praxisorientierten Wissenschaft. Wir wollen mit der Politik und den Praktikerinnen und Praktikern der Konfliktbearbeitung, etwa in der Sozialarbeit, bei der Polizei oder im Bereich Integration, im intensiven Austausch sein. Dort ist in Bezug auf die jeweiligen Konfliktsituationen sowie die politischen und praktischen Handlungsmöglichkeiten ganz viel Expertise vorhanden. Auf dieser Grundlage können wir dann durch den wissenschaftlichen Perspektivenwechsel gemeinsam neue Handlungsoptionen entwickeln.
BSZ: Was bedeutet das konkret?
Weller: Aktuell forschen wir gemeinsam mit der Kommunalen Konfliktberatung des „Forum Ziviler Friedensdienst“, wie sich die Konfliktbearbeitung in Städten und Kommunen verbessern lässt. Dort wächst nämlich das Konfliktpotenzial erheblich, etwa in Bezug auf die Nutzung des öffentlichen Raumes. Und zugleich ist die Politik auf dieser Ebene besonders handlungsfähig, etwa bei der Umsetzung präventiver Maßnahmen. Dort wird wissenschaftliche Konfliktexpertise benötigt.
BSZ: Es gibt in Bayern nur an der Universität Augsburg einen Lehrstuhl für Friedens- und Konfliktforschung. Bräuchte es mehr?
Weller: Mithilfe der beim Bundesforschungsministerium jüngst eingeworbenen Mittel können wir die Friedens- und Konfliktforschung in Bayern besser vernetzen. Aber das ist natürlich nur der Startpunkt. Ein einziger Lehrstuhl wird der stark steigenden Nachfrage nach Konfliktexpertise nie und nimmer gerecht. Und es passt nicht mehr so richtig in die Zeit, dass die wissenschaftlichen Institute für Friedens- und Konfliktforschung nur außerhalb von Bayern angesiedelt sind. (Interview: David Lohmann)
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