Politik

Trotz aller Einschränkungen: Das Grundgesetz steht für eine Erfolgsgeschichte. (Foto: dpa/Soeren Stache)

23.05.2019

"Die Grundrechte sind relativiert worden"

70 Jahre Grundgesetz: Klaus Hahnzog, prominenter Verfassungsjurist der bayerischen SPD, über Bayerns Ablehnung der Verfassung, das Thema NPD-Verbot und staatliche Enteignungen

Das Grundgesetz – Klaus Hahnzog (82) hat es selbstverständlich dabei, als er zum Interview in einem Münchner Café erscheint. Zehn Jahre lang war der SPD-Mann Vorsitzender des Rechts- und Verfassungsausschusses im Landtag, zuvor war der Jurist unter anderem Kreisverwaltungsreferent und Dritter Bürgermeister der Stadt München. 70 Jahre Grundgesetz – Hahnzogs Blick auf die Verfassung ist rundum positiv. Doch einige Grundgesetzänderungen sieht er kritisch.

BSZ: Herr Hahnzog, das Grundgesetz wurde in Bayern zusammengezimmert, die Beratungen fanden 1948 auf Herrenchiemsee statt. Aber dann wurde es von Bayern zunächst abgelehnt. Ist das Grundgesetz in Bayern heimisch geworden?
Klaus Hahnzog: Die Ablehnung des Grundgesetzes durch Bayern 1949 hängt damit zusammen, dass die Bayern einfach schon immer gegen Berlin opponiert haben und dass sie eben auch 1949 demonstrieren mussten: Wir sind hier ein eigener Staat.

BSZ:  „Meine Beamten können nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen.“ Mit diesem berüchtigten Satz hat Bundesinnenminister Höcherl (CSU) 1963 die Verletzung des Telefongeheimnisses durch den Verfassungsschutz gerechtfertigt. Glauben Sie, dass ein Minister so einen Satz heute auch noch bringen könnte?
Hahnzog: Nein, das kann man sich heute nicht mehr vorstellen, kein Politiker würde es heute wagen, so einen Satz zu sagen. Das Grundgesetz ist längst zu einer allseits anerkannten Autorität geworden. Dass etwa Horst Seehofer heute so etwas sagen würde wie Hermann Höcherl 1963, das ist unvorstellbar.

BSZ: Andererseits ist das Grundgesetz seither immer wieder eingeschränkt worden, zum Beispiel ist das Telefongeheimnis mittlerweile durchlöchert.
Hahnzog: Allerdings, Artikel 10 des Grundgesetzes ist von den 60er-Jahren bis heute mehrfach eingeschränkt worden. Das Telefongeheimnis ist ziemlich aufgeweicht worden

BSZ: Im Korruptionsprozess gegen den suspendierten Regensburger OB Joachim Wolbergs hat sich gezeigt, dass beim Abhören von Telefongesprächen des OB eindeutig zu viel mitgeschnitten wurde.
Die Verteidigung macht zu Recht geltend, dass ihr Mandant in seinen Grundrechten verletzt wurde.
Hahnzog: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gerichte, die jetzt damit befasst sind, davon abweichen, dass das sowieso schon aufgeweichte Telefongeheimnis unbedingt zu achten ist. Wenn daran weitere Abstriche gemacht würden, das wäre eine Niederlage des Rechtsstaats. An den grundgesetzlich garantierten Rechten als Leitfaden ist unbedingt festzuhalten.

"Beim Problem Wohnungsnot ist Sozialisierung der falsche Weg"

BSZ: Der Satz von Hermann Höcherl ist ja auch falsch: Das Grundgesetz ist so dünn, dass man es jederzeit in die Sakkotasche stecken kann. Allerdings ist es in diesen 70 Jahren immer dicker geworden. Wenn man sich den Artikel 16 anschaut, wie der durch den Zusatzartikel 16a von 1993 in die Breite gegangen ist: ein Bandwurmsatz, ein Ungetüm mit lauter Einschränkungen ...
Hahnzog: Ja, der ursprüngliche Artikel 16 sagt klipp und klar: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, Punkt. Seit 1993 folgt eine lange Litanei von Einschränkungen und Abstrichen. Genauso Artikel 13: „Die Wohnung ist unverletzlich.“ Seit 1998 kommt anschließend das große „Aber“. Das hat dem Grundgesetz nicht gutgetan, weil das immer Einschränkungen waren, die die Wirkungskraft des Grundgesetzes geschmälert haben. Ursprünglich hat es an den Grundrechten nichts zu rütteln gegeben.

BSZ: Das heißt, die Grundrechte sind relativiert worden?
Hahnzog: Ja, das muss man so sagen.

BSZ: Ist das eine generelle Tendenz oder sind die genannten Beispiele Ausnahmen?
Hahnzog: Das ist eine generelle Tendenz, dass man meint, so starre Vorschriften seien überholt und man müsse mehr dem Einzelfall Rechnung tragen. Das ist eine schlechte Entwicklung.

BSZ: Eigentlich ist das seltsam, man würde doch meinen, die Nachkriegsjahre waren weniger liberal als heute, aber die Fassung des Grundgesetzes von 1949 ist in vielem liberaler als die heutige. Hat die heutige Zeit Probleme mit der Freiheit?
Hahnzog: Die heutige Zeit versucht, die Grundrechte nicht mehr als so festen Leitsatz hinzunehmen, und das ist eine Gefahr. Ich halte es für einen Fehler, wenn man versucht, sich die Verfassung zurechtzumachen, statt dass man sich selber nach der Verfassung richtet.

BSZ: 70 Jahre nach Inkrafttreten hat man auf einmal festgestellt, dass das Grundgesetz einen Artikel 15 hat, demzufolge Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel in Gemeineigentum überführt werden können. In Berlin läuft ein Volksbegehren mit dem Ziel, riesige Wohnungsgesellschaften zu verstaatlichen. Was halten Sie davon?
Hahnzog: Das halte ich für den falschen Weg. Man muss, wie es in Artikel 14 steht, daran festhalten, dass das Eigentum garantiert wird.

BSZ: Und wie soll den explodierenden Mieten zum Beispiel in München dann Einhalt geboten werden?
Hahnzog: Da bietet das Grundgesetz genügend Schranken. So wie es die vergangenen Jahre gelaufen ist, das kann auf die Dauer nicht gutgehen. Es ist überhaupt keine Frage, dass der gegenwärtige Zustand sehr problematisch ist und dass die Verfassung eigentlich was anderes sagt.

BSZ: Artikel 15 ist keine Lösung?
Hahnzog: Sozialisierung ist da der falsche Weg. Ich glaube aber, dass die Verfassung genug andere Möglichkeiten bietet, um dieser Misere gegenzusteuern.

BSZ: Ein Blick nach Österreich: Wie ist der Strache-Skandal verfassungsrechtlich zu beurteilen? Das heimliche Video wurde illegal aufgenommen. Aber es stellt sich die Frage, ob das öffentliche Interesse daran nicht überwiegt.
Hahnzog: Ich würde sagen, das öffentliche Interesse überwiegt eindeutig. Es ist überhaupt keine Frage, dass die Veröffentlichung des Videos in Ordnung ist.

BSZ: Zurück nach Deutschland: Thema Parteienverbot. Zuletzt sind mehrere Anträge, die NPD zu verbieten, vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt worden. Fanden Sie die Entscheidung richtig?
Hahnzog; Nein, man hätte die NPD verbieten sollen.'

BSZ:
Warum?
Hahnzog: Es hätte genug Gründe für ein Verbot gegeben, obwohl es eine große Bandbreite von erlaubten Positionen gibt.

BSZ: Aber die AfD kann man nicht verbieten, der muss man mit anderen Mitteln beikommen?
Hahnzog: Mit der AfD muss man so zurechtkommen. Dafür gibt’s genug Möglichkeiten. Der Nachteil ist natürlich, wenn man rechtsextreme Parteien zulässt, dass die ganze Diskussionsebene nach rechts außen erweitert wird.

BSZ: 70 Jahre Grundgesetz, was geht Ihnen ab in der Verfassung?
Hahnzog: Es fehlt ein ausreichender Schutz der Umwelt. So offen muss eine Verfassung sein, dass sie solche Entwicklungen aufnimmt. Das ist vielleicht ein bisschen schwierig, aber es lohnt sich dann auch.

BSZ: Einer der ersten maßgebenden Kommentatoren des Grundgesetzes war Theodor Maunz (CSU), der auch bayerischer Kultusminister war. Nach seinem Tod kam auf, dass er all die Jahre heimlich für die „Deutsche Volksunion“ tätig war, die 2011 mit der NPD fusionierte.
Hahnzog: Ja, das war wirklich gruselig. Auch ich war damals völlig überrascht.

BSZ: Hat die Juristerei einen doppelten Boden? In Sonntagsreden wird das Grundgesetz hochgehalten, und gleichzeitig steckt so ein Vorzeigejurist wie Maunz mit den Nazis unter einer Decke?
Hahnzog: Ja, da bedarf es wachsamer Leute, die darauf hinweisen.
(Interview: Florian Sendtner)

Foto (Sendtner): Klaus Hahnzog, Verfassungsexperte der bayerischen SPD.     

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