Dieter Köhler war Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und 15 Jahre Sachverständiger für das Bundesgesundheitsamt. Gemeinsam mit anderen prominenten Mitgliedern seines Vereins „Sokrates – ein Forum kritischer Rationalisten“ veröffentlichte er ein Papier zu den Lehren aus der Pandemie.
BSZ: Herr Köhler, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat den internationalen Corona-Gesundheitsnotstand kürzlich aufgehoben. Eine richtige Entscheidung?
Dieter Köhler: Ja, es wurde wirklich Zeit. Die WHO hat zu Beginn der Pandemie so getan, als breche die Welt zusammen. Dabei gibt es schon seit Jahrzehnten Pandemiekonzepte – ich habe 2005 selber eines geschrieben. Die hat nur keiner der Entscheidungsträger gelesen. Besonders versagt hat die WHO bei ihrer Leitlinie zur Beatmung. Durch die strategische Frühintubation (invasive Beatmung, Anmerkung d. Red.) sind vor allem in Industrieländern über 100 000 Menschen unnötig gestorben. Das Paper dazu war schwer zu veröffentlichen, weil viele Intensivstationen es immer so gemacht haben, obwohl es keine pathophysiologische Grundlage dafür gibt. Zudem sind die Erlöse ungleich höher.
BSZ: Ihr Verein Sokrates, der sich ein Forum kritischer Rationalisten nennt, hat ein Papier zu den Lehren aus der Pandemie veröffentlicht. Was war in den letzten drei Jahren der größte Fehler?
Köhler: Der Versuch, Infektionen zu verhindern. Weil es uns irgendwann sowieso alle erwischt. Deswegen war auch die politische 2G- und 3G-Vorgabe weder immunologisch noch epidemiologisch sinnvoll. Stattdessen hätte man daran arbeiten sollen, die Viruslast zu reduzieren – zum Beispiel mit einer konsequenteren Maskenbenutzung in Innenräumen, wie im Restaurant. Denn die Todesrate hängt davon ab, wie viele Viren eine Person pro Zeiteinheit abbekommt. Die Quarantänemaßnahmen waren deshalb sinnlos, weil das Virus bei manchen Menschen wie bei Herpes dauerhaft im Körper bleibt.
BSZ: Wie bewerten Sie rückblickend Maskenpflicht und Impfung?
Köhler: Die Maskenpflicht im Freien war Unsinn. Für den Selbstschutz in Innenräumen war sie gut, weil dadurch die Verläufe milder wurden. Die Pandemie konnte man damit aber nicht bremsen. Seit 2008 weiß man, dass abgeatmete Viren ebenso wie Zigarettenrauch über Stunden in der Luft bleiben. Deswegen war auch die Kontaktnachverfolgung zum Scheitern verurteilt. Die Impfung hat durchaus geholfen – aber nur die erste. Dazu gibt es nur wenige gute Studien, aus Deutschland schon gar nicht. Aber eine gute Kohortenuntersuchung aus Island zeigt, dass zweifach Geimpfte häufiger krank werden als einfach Geimpfte.
BSZ: Wie sinnvoll waren die Lockdowns?
Köhler: Am Anfang wusste niemand, wie gefährlich der Virus ist. Um herauszufinden, ob es sich dabei etwa um eine wirklich gefährliche Mutation handelt, war der erste Lockdown richtig – alle anderen nicht. Schon Mitte 2020 war klar, dass es keine bundesweite Überfüllung der Kliniken und Intensivstationen geben wird. Nur dann wären Lockdown-Maßnahmen zur Verzögerung der Virusausbreitung gerechtfertigt gewesen. In Bayern waren die Ausgangssperren besonders schlimm. So wurden die Menschen in ihre Häuser beziehungsweise Innenräume gezwungen, wo sie sich angesteckt haben. Das hat die Pandemie beschleunigt.
BSZ: Hat Sie die Diskussion um die Impfpflicht gewundert? Es war doch klar, dass bei einem Atemwegsvirus eine Impfung nicht vor Weitergabe schützt.
Köhler: Ja! Was nicht ins Konzept passt, wurde einfach ausgeblendet. Die Killervariante, die Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach immer heraufbeschworen hat, ist auch nie gekommen. Was logisch war, weil Viren ständig mutieren und sich dabei dann fast immer abschwächen. Eine Mutation, die zu einer Pandemie führt, ist quasi wie ein Lottogewinn für den Virus. Lauterbach ist wie Virologe Christian Drosten oder Ex-Kanzlerin Angela Merkel ein sehr ängstlicher Mensch und verwendet wegen des Feinstaubs zum Beispiel nur elektronische Kerzen.
"Zweifach Geimpfte werden öfter krank als einfach Geimpfte"
BSZ: Lauterbach betonte auch, die Impfung sei „nebenwirkungsfrei“. Letztes Jahr räumte er ein, dass die Impfung doch schwere Nebenwirkungen haben kann. Auch Kitas und Schulen wurden als Infektionstreiber gegeißelt. Wie erklären Sie sich solche Fehlurteile?
Köhler: Lauterbach hat nie wissenschaftlich oder ärztlich gearbeitet. Seine Approbation erhielt er durch eine Gesetzesänderung, ohne jemals Kontakt mit Patienten zu haben. 2004 war die Pflicht entfallen, dafür ein zwölfmonatiges Arzt-Praktikum nachweisen zu müssen. Auch hat er sich nie wissenschaftlich habilitiert. Seine Professur hat er mit der Leitung des Instituts für Gesundheitsökonomie an der Universität zu Köln bekommen. Er hat auch nie eine einzige relevante Publikation als Erstautor veröffentlicht. Aus diesem Grund kann er Literatur nicht richtig bewerten. Die mangelnde Erfahrung mit Patienten merkt man an allen Ecken und Enden. Das gilt auch für die meisten Virologen, die nur im Labor arbeiten.
BSZ: Wieso haben während der Pandemie nicht mehr Fachleute Kritik an Lauterbach geübt?
Köhler: Viele hatten Angst vor einem Karriereknick. Außerdem wurde häufig jeder ergebnisoffene Dialog von den medizinischen Fachgesellschaften abgewürgt. Die Argumente seien nicht „universitär“, hieß es immer – das ist deren Standardargument. Da diese Fachgesellschaften immer für ihre Klientel sprechen und es oft um viel Geld geht, sind die meisten von ihnen nicht neutral beziehungsweise an der Wissenschaftlichkeit orientiert. Noch schlimmer war aber, dass außer der Neuen Zürcher Zeitung und der Welt die großen Tageszeitungen sowie die öffentlich-rechtlichen Sender Kritik nicht zugelassen haben. Die Selbstzensur kluger Journalistinnen und Journalisten hat den Entscheidungsträgern in der Pandemie in den Regierungen in die Karten gespielt. Und die Parteien haben ihre Meinung zumeist dem aktuellen Trend angepasst.
BSZ: Was war mit den Corona-Expertenräten in Bund und Ländern? Diese sollten die Politik doch fachlich beraten.
Köhler: Es wurden die Experten genommen, die ins System passten. Normalerweise schicken die Fachgesellschaften in solchen Fällen Fachleute. Weil es aber während Corona in den Krankenhäusern um viel Geld ging, wurden Vertreterinnen und Vertreter geschickt, die gut verhandeln können, aber von der Sache oft nur wenig, manchmal auch keine Kenntnis über wesentlichen Mechanismen einer Pandemie haben.
BSZ: Was darf Ihrer Meinung nach bei künftigen Pandemien nie wieder passieren?
Köhler: Es müssen die hysterischen Reaktionen abgebremst, ein Lockdown dreimal überlegt und die Herdenimmunität zugelassen werden, ohne den Individualschutz außer Acht zu lassen. Dazu gehört, Masken im Restaurant wirklich nur zum Essen oder Trinken abzunehmen. Die 2-Meter-Abstandsregel kommt aus der Tuberkulose-Zeit und ist für Corona völlig ungeeignet. Jeder soll das Virus bekommen, aber eben nicht zu viele Viren auf einmal. Viele Probleme entpuppen sich dann als Scheinprobleme.
BSZ: Psychosoziale Aspekte spielten bei den Corona-Maßnahmen in den letzten drei Jahren kaum eine Rolle. Bräuchte man bei einer neuen Pandemie mehr Expertise aus der Soziologie oder Epidemiologie?
Köhler: Man braucht vor allem kluge Köpfe, die diskursfähig und bodenständig sind. Viele Virologen wussten zum Beispiel nicht einmal, dass sich die Pandemie über die kleinen abgeatmeten Aerosole verbreitet. Das habe ich auch in persönlichen Gesprächen mit Virologen erlebt. Das hat mich etwas entsetzt. Sie dachten, das Virus verbreitet sich über die Hände und den Husten, weshalb überall Desinfektionsmittel herumstanden. Dabei ist klar, dass sich ein Pandemievirus niemals nur über die Hand so schnell verbreiten kann.
BSZ: Wer Husten hatte, traute sich nicht mehr aus dem Haus.
Köhler: Ja, hustende Menschen wurden sofort gemieden beziehungsweise zogen sich zurück, da sie in der Pandemie quasi wie Aussätzige behandelt wurden. Es war ein schwerer Fehler der Hygieniker, den relevanten Ausbreitungsmechanismus nicht erkannt zu haben, obwohl das von der Influenza etwa seit 2008, auch abgesichert in Tierexperimenten, publiziert war.
BSZ: Müssten sich Politik und Wissenschaft für manche Entscheidungen entschuldigen?
Köhler: Unbedingt. Viele müssten in Sack und Asche gehen und sagen: „Wir haben uns geirrt.“ Aber das wird nicht passieren. Niemand will etwas aufarbeiten, weil er oder sie Angst hat, demaskiert zu werden. Es bräuchte wieder mehr Kritischen Rationalismus. Philosoph Karl Popper erklärt in seinem Prinzip der Fehlbarkeit: „Vielleicht habe ich unrecht, und vielleicht hast du recht. Aber wir können auch beide unrecht haben.“
(Interview: David Lohmann)
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