Politik

Der Schüler einer 2. Klasse in der Grundschule St. Konrad arbeitet mit Gehörschutz. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

19.11.2019

Die Systemfrage

Bis 2025 sollen Eltern das Recht haben, dass ihr Kind am Nachmittag betreut wird. Die Diskussion um die Ganztagsgarantie wirft dabei eine grundsätzliche Frage auf: Was soll Schule eigentlich leisten?

Es ist 15.31 Uhr, vor einer Minute schallte die Pausenglocke durchs Schulhaus. Susanne Graz sitzt mit ihren Schülern auf dem Boden. Eigentlich will sie sich verabschieden, doch es kehrt einfach keine Ruhe ein. "Ist eure Freizeit, die ihr gerade verquasselt", ermahnt sie die Klasse. Die Ansage wirkt.

Seit 25 Jahren ist Graz Lehrerin, überwiegend an der St.-Konrad-Grundschule in Haar bei München. Während für die meisten Schüler der Unterricht schon mittags endet, bleiben die Mädchen und Jungen der Klasse 2a noch ein paar Stunden länger. Der Grund: Graz unterrichtet im gebundenen Ganztag. Für ihre Schüler ist erst um halb vier Schluss.

Dafür braucht es einen anderen Rhythmus als in Regelklassen. Bewegungs- und Spielphasen sind fest in den Stundenplan eingebaut. Statt Hausaufgaben hat jeder Schüler einen individuellen Wochenplan. Neuer Stoff wird direkt im Klassenzimmer geübt. Für die Kinder sei der lange Tag anstrengend, sagt Graz. Trotzdem ist sie von dem Konzept überzeugt.

Die Landesregierung setzt dagegen seit Jahren auf den offenen Ganztag. Das heißt: morgens Unterricht, am Nachmittag Hausaufgaben und Freizeit. Oft gibt es nur eine einfache Mittagsbetreuung. Gerade einmal sieben Prozent der Schüler werden im teureren Modell - dem gebundenen Ganztag - unterrichtet.

Die Diskussion hat jüngst wieder Fahrt aufgenommen, weil ab 2025 alle Eltern ein Recht darauf haben sollen, dass ihre Kinder von der 1. bis zur 4. Klasse bis zum Nachmittag betreut werden. Das Bundeskabinett hat vergangene Woche in einem ersten Schritt die Einrichtung eines Sondervermögens in Höhe von zwei Milliarden Euro beschlossen. Das Geld ist gedacht für Investitionen in Räumlichkeiten und Gebäude an den rund 15 000 Grundschulen in Deutschland.

Bringt nichts, Kinder bis 16 Uhr irgendwie aufzubewahren

Während das Kultusministerium in München in alle Modelle investieren will, warnte der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) kürzlich, an jeder Ecke zu sparen. "Es bringt gar nichts, viel Geld in billiges Personal zu stecken, um die Kinder bis 16 Uhr irgendwie aufzubewahren", sagte BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. Sie würde am liebsten jeden weiteren Euro in den gebundenen Ganztag investieren.

Was das in der Praxis bedeutet, weiß Andrea Zran. Sie ist Rektorin an der St.-Konrad-Grundschule und hat sich lange gegen den gebundenen Ganztag, wie ihn sich die Regierung vorstellt, gewehrt: "Die paar Lehrerstunden und die paar Euro zusätzlich werden den Kindern einfach nicht gerecht." Der Ganztag in Haar funktioniere heute nur, weil die Gemeinde vor Ort viel Geld locker mache.

85 Prozent der Mädchen und Jungen an der St.-Konrad-Grundschule werden dieses Schuljahr am Nachmittag länger betreut. Dass mittags zu Hause das Essen auf dem Tisch steht, sei längst nicht mehr die Regel, berichtet Zran. Trotzdem habe niemand den Mut, das System grundlegend neu zu denken. Sie würde gerne die verschiedenen Ganztags-Angebote zusammenführen und betont: Man müsse sich entscheiden. "Flexible Modelle gehen immer auf Kosten der Pädagogik". Auch die Betreuungsgarantie ab 2025 sieht sie kritisch: "Wir erlassen erst etwas und schauen dann wie wir es passend ins System reinstopfen", ärgert sie sich. Für guten Ganztag bräuchte es viel mehr Personal, mehr Räume und kleinere Klassen.

Lehrer-Pädagogen-Tandems für Ganztagsklassen

Beim Rundgang durch die Schule wird deutlich, was das bedeutet: Vor fünf Jahren wurde der Natur-Pausenhof fertig - mit Klettergerüst, Apfelbäumen, Wasserlauf und einem "Klassenzimmer im Grünen". Es gibt ein Fußball- und Basketballfeld, Tischtennisplatten und eine Boulderwand. Bei schlechtem Wetter können die Ganztagsklassen in die beiden Spiel- und Bewegungsräume. Gleich daneben gibt es kleine Nischen, in denen die Kinder zur Ruhe kommen können. Solche Rückzugsorte seien im Ganztag unverzichtbar, erklärt Zran und ergänzt: "Wir sind aber wirklich nicht der Maßstab." Nicht jede Kommune könne so viel Geld in den Ganztag stecken.

Wieder zurück im Klassenzimmer schart Susanne Graz eine kleine Gruppe Schüler um sich herum. Während sie ihnen das Mathe-Merkspiel "Blinde Kuh" erklärt, ist die andere Hälfte der Klasse ein Zimmer weiter beschäftigt. Mit Kopfhörern auf den Ohren liegen sie auf dem Boden und lösen Matheaufgaben am Tablet.

Bei Fragen hilft Stefan Fischer. Er ist einer der beiden Klassenpädagogen der 2a - eine weitere Besonderheit: Jede Ganztagsklasse wird von einem Lehrer-Pädagogen-Tandem betreut. So könne man oft in Kleingruppen arbeiten und individuell auf die Stärken und Schwächen der Schüler eingehen, erklärt Fischer. Das sei für die Persönlichkeitsentwicklung ganz wichtig.

Anfangs sei die Arbeit im Team ein komisches Gefühl gewesen, erzählt Graz, waren Lehrer doch über Jahrzehnte Einzelkämpfer. Doch wenn man eine Ganztagsklasse unterrichtet, sei die Rolle eine ganz andere. Für ihre Schüler ist "Frau Graz" nicht nur die Lehrerin. Sie ist auch Lebensbegleiter, Kummerkasten, zeitweise Mama-Ersatz. "Wir müssen viele soziale Themen aufarbeiten", erzählt die Pädagogin - sowohl Probleme zu Hause als auch Konflikte in der Klasse. Um den Unterricht an den schulischen und emotionalen Bedürfnissen ihrer Schüler auszurichten, braucht sie aber vor allem eines: Zeit.
(Moritz Baumann, dpa)

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