Politik

Im Grundgesetz ist das Recht auf Meinungsfreiheit festgeschrieben. Damit ist alles klar – oder doch nicht? (Foto: dpa/Jens Kalaene)

18.10.2024

Entsetzen über grüne Zensur

Die Bundesnetzagentur macht sich mit dem Segen der Ampelregierung daran, strittige Inhalte im Internet zu canceln – Fachleute nennen das unzulässig

Die Meinungsfreiheit ist zentrales Element jeder Demokratie. „Eine Zensur findet nicht statt“, heißt es unmissverständlich in Artikel 5 des Grundgesetzes. Doch zuletzt häuften sich Stimmen, die genau davor warnen. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) warf der staatlichen Bundesnetzagentur vor, als „grüne Zensuranstalt“ zu agieren, „die den Meinungskorridor einseitig einschränkt“. Und auch der renommierte Rechtswissenschaftler Volker Boehme-Neßler spricht mit Blick auf das aktuelle Agieren der Bundesnetzagentur von „zensurähnlichen“ Auswirkungen.
Im Zentrum der Kritik steht die deutsche Umsetzung des sogenannten Digital Services Act (DSA) der EU. Das Gesetz über digitale Dienste ist nach Angaben der Bundesregierung „seit dem 17. Februar 2024 vollumfassend anwendbar“. Demnach sind soziale Medien verpflichtet, Beiträge mit mutmaßlich illegalen Inhalten kurzfristig zu entfernen.

Doch wer bestimmt, welcher Post noch ein legitimer Debattenbeitrag, Hassrede oder bereits illegale Hetze ist? Unabhängige Gerichte oder auf das Wohl der Allgemeinheit eingeschworene Rechtsexperten wie Staatsanwälte? Das möchte man meinen. Doch, wenn es um Facebook, Instagram und Co. geht, gilt diese Prämisse oft nicht.

FDP-Mann Kubicki spottet: das sei ein grünes Eigentor

In Deutschland ist für die Umsetzung des DSA und die Aufsicht über die Social-Media-Anbieter die Bundesnetzagentur zuständig. Um jedoch zu vermeiden, dass der Staat über eine Behörde als direkter Zensor auftritt, kooperiert die Netzagentur im Kampf gegen verfassungsfeindliche Äußerungen oder Beleidigungen mit privaten Organisationen. Diese sogenannten, „vertrauenswürdigen Hinweisgeber“ (Trusted Flagger) sollen laut EU-Kommission helfen, „potenziell illegale Inhalte zu erkennen und die Online-Plattformen zu warnen“. Zwar sollen die Organisationen „besondere Sachkenntnisse“ nachweisen, doch letztlich bestimmt die Bundesnetzagentur selbst, wen sie für geeignet hält.

Geht bei Facebook und Co ein Hinweis von Trusted Flaggern über mutmaßlich rechtswidrige Inhalte ein, müssen die Online-Plattformen diese „vorrangig behandeln und unverzüglich bearbeiten“. Anhänger des neuen Gesetzes etwa von den Grünen verweisen zwar gerne darauf, dass die Entscheidung, ob sie gemeldete Inhalte ins digitale Nirvana befördern oder einen möglichen Behördenärger riskieren, letztlich bei den Portalen liegt. Nicht nur der Rechtsexperte Boehme-Neßler ist allerdings überzeugt: Im Zweifel werden die renditeorientierten US-Konzerne unliebsame Inhalte lieber „im großen Stil löschen“.

Kein Wunder: Netzagentur-Chef Klaus Müller betonte bereits im Juni, wenn jemand „vorsätzlich und stoisch die Regeln missachtet, dann wird es teuer“. Bei Verstößen können Plattformbetreiber mit bis zu 6 Prozent ihres Jahresumsatzes sanktioniert werden. „Das ist sehr schmerzhaft“, sagt der einstige Grünen-Spitzenpolitiker Müller.

Meinungsfreiheit im Internet wird weiter eingeschränkt

Im Gespräch mit der Staatszeitung prophezeit Boehme-Neßler „Die Meldestellen werden die Meinungsfreiheit im Internet immer weiter einschränken.“

Anfang Oktober gab die Bundesnetzagentur bekannt, sie habe den ersten Trusted Flagger ernannt: die Meldestelle „Respect!“ der Jugendstiftung Baden-Württemberg. Die mit staatlichen Mitteln geförderte Organisation setzt sich nach eigener Aussage seit Jahren gegen Hetze, Verschwörungserzählungen und Fake News ein. „Wir zeigen insbesondere Jugendlichen auf, wie sie sich vor allem gegen strafrechtlich relevante Äußerungen im Netz wehren können“, sagt Petra Densborn, Vorstandsvorsitzende der Jugendstiftung Baden-Württemberg der BSZ. Geld fließt nach Angaben von Respect nicht nur seitens des Landes Baden Württemberg und des Bundesfamilienministeriums, sondern kommt auch vom Bayerischen Sozialministerium.

In einer Pressemitteilung ließ sich Müller mit den Worten zitieren: „Illegale Inhalte, Hass und Fake News können sehr schnell und ohne bürokratische Hürde entfernt werden.“ Erst nachdem öffentliche Kritik laut wurde, präzisierte er, dass es um „illegale Hassrede und illegale Fake News“ gehe. Denn klar ist: „Hass“ und „Fake News“ sind hierzulande nicht per se strafbar.

Befürchtet wird, dass künftig auch zulässige Beiträge gemeldet werden und in der Folge Selbstzensur um sich greife, um ja einer Sperrung des Accounts zu entgehen. Demokratie brauche keine privilegierte Hinweisgeber, „die von der Meinungsfreiheit gedeckte Ansichten bewusst in das Licht der Kriminalität oder Illegalität zu rücken versuchen“, so die FDP-Bundestagsabgeordnete Katja Adler. Ihr Parteikollege Kubicki kritisiert im Gespräch mit der Staatszeitung, dass die Bundesnetzagentur einerseits die nachgeordnete Behörde des grünen Wirtschaftsministeriums sei, andererseits laut DSA „völlig unabhängig sein soll“. Das passe nicht zusammen.

Dokument einstampfen

Kubicki kritisiert einen Leitfaden, den die Netzagentur an Trusted Flagger richtet. Er sagt: „Wenn Informationsmanipulation mit dem Ziel, die Integrität und den Ausgang von Wahlen zu beeinflussen als unzulässig angesehen wird, würde dies bedeuten, dass die Grünen keinen Bundestagswahlkampf mehr machen dürften.“ Das Dokument müsse „eingestampft werden“. Mechthilde Wittmann, Innenexpertin der CSU-Landesgruppe im Bundestag, stört sich insbesondere an der bisherigen Auswahl der Hinweisgeber: „Es besteht eine reale Gefahr, dass der Meinungskorridor durch solche Maßnahmen einseitig eingeschränkt wird, wenn nur eine Organisation zugelassen wird. Es hätte mindestens der gleichzeitigen Zulassung mehrerer Organisationen bedurft, die nicht einseitig einen grünen Einschlag haben“, sagt sie der BSZ.

Wittmann nennt es „besorgniserregend, wenn Plattformen gezwungen wären, Meldungen von einzelner Trusted Flagger bevorzugt zu behandeln“. Legitime Meinungen dürften „nicht unrechtmäßig gelöscht werden“. Für die Bundestagsabgeordnete ist klar: „Eine solche Art von Missbrauch würde den politischen Diskurs massiv beeinträchtigen.“ Sie fürchtet, dass „politische Veranstaltungen oder legitime Meinungen durch anonyme Meldungen blockiert oder in ihrer Reichweite stark eingeschränkt werden könnten.“ Die Auswahl von Meldestellen müsse „transparent und ideologisch neutral erfolgen“.

Rechtsexperten sind alarmiert. Der Augsburger Verfassungsrechtler Josef Franz Lindner ist überzeugt: „Wenn man später einmal den Niedergang der Meinungsfreiheit in Deutschland und den Einstieg in den Zensurstaat rekonstruieren will“, werde dem Leitfaden zu den Trusted Flaggern „die Rolle eines Schlüsseldokuments zukommen“. Volker Boehme-Neßler, Professor für Öffentliches Recht an der Uni Oldenburg, hält „die neuen Regelungen für mit dem Grundgesetz nicht vereinbar“.

„Juristische Laien säubern künftig das Internet“

Er fürchtet um die Meinungsfreiheit: „Quasi im Auftrag des Staates machen sich juristische Laien auf den Weg, das Internet zu säubern.“ Der Jurist fürchtet, dass „auch viele Inhalte gemeldet werden, die nicht rechtswidrig sind“. In einer großen Zahl an Fällen werde das Recht auf Meinungsfreiheit verletzt werden.

Den Leitfaden für die Meldestellen nennt Boehme-Neßler „erschreckend“. Dieser gehe „deutlich über die europäischen Vorgaben hinaus“. Denn der Leitfaden nehme „auch Hass und Hetze, Fake News und Desinformation in den Blick“. Doch so „unschön Hass und Hetze sind, in vielen Fällen sind sie von der Meinungsfreiheit geschützt“.

Die Grünen-Europaabgeordnete Alexandra Geese schrieb dagegen auf X: „Wer die Durchsetzung deutschen Rechts im Internet als grüne Zensuranstalt bezeichnet, stellt Demokratie und Rechtsstaatlichkeit infrage.“ Die Bundesnetzagentur kann die Kritik erwartungsgemäß ebenfalls nicht nachvollziehen. „Die Meldungen von zertifizierten Trusted Flaggern müssen sich auf mutmaßlich rechtswidrige Inhalte beziehen“, so eine Sprecherin. Sie verweist auf Anfrage darauf, dass die finale Beurteilung, ob Inhalte auf Online-Plattformen und -Diensten rechtswidrig seien und entfernt werden müssten, bei den Gerichten liege. Diese bekommen nun einiges zu tun.
(Tobias Lill)

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