Nach einem guten halben Jahr im Amt zieht Deutschlands erster Hate-Speech-Bauftragter Klaus-Dieter Hartleb Bilanz. Die Zahl der Ermittlungsverfahren sei noch ausbaufähig, räumt er ein. Schuld daran seien mangelhafte Befugnisse bei der Täterermittlung und die unzureichende Kooperationsbereitschaft der sozialen Netzwerke.
BSZ Herr Hartleb, in ganz Bayern gab es im ersten Quartal 2020 nur 356 Strafverfahren wegen Hassreden im Internet. Das klingt nicht nach viel.
Klaus-Dieter Hartleb Ich finde das nicht gerade wenig. Es kann auch sein, dass durch Corona bei der Polizei in dieser Zeit nicht alle Vorgänge an die Staatsanwaltschaften abverfügt wurden. Bis zur Jahresstatistik ist die Zahl daher noch unter Vorbehalt. Aber natürlich ist sie im Hinblick darauf, dass es sich bei Hate Speech objektiv um ein Massenphänomen handelt noch relativ niedrig. Allein Facebook hat im ersten Quartal 2019 rund 160 000 Kommentare wegen deren Einordnung als Hassrede entfernt. Auch wenn nicht alle strafrechtlich relevant sein dürften, klafft das natürlich auseinander.
BSZ Welche Konsequenz ziehen Sie daraus?
Hartleb Die Zahl der Ermittlungsverfahren muss gesteigert werden. Denn es gilt zu verhindern, dass sich die Täter ermutigt fühlen in Anbetracht der Tatsache, dass in einer erheblichen Zahl der Fälle eine strafrechtliche Verfolgung nicht stattfindet. Aber die Zahl der Ermittlungsverfahren wird steigen und ist bereits gestiegen.
BSZ Selbst wenn Sie damit erfolgreich sind: Experten beklagen, aus einer Flut von Anzeigen werde nur ein Rinnsal von Verurteilungen.
Hartleb Wir haben noch keine valide Statistik, wie viele Verurteilungen es gab oder wie viele Verfahren eingestellt wurden. Aber von einem „Rinnsal“ an Verurteilungen würde ich pauschal nicht sprechen. In Deggendorf zum Beispiel wurde 2017 eine Demonstration von Flüchtlingen live auf der AfD-Facebook-Seite gestreamt – das hat natürlich Hetzer auf den Plan gerufen. Wir haben anschließend 195 Verfahren geführt, 155 Menschen wurden bislang rechtskräftig verurteilt. Das ist zwar nicht repräsentativ, zeugt aber von einer guten Quote.
BSZ Bayerns Justizminister Georg Eisenreich (CSU) fordert schärfere Strafen für Beleidigungen. Sind die Strafen bisher zu lasch?
Hartleb Nein, nicht generell. Es geht in diesem Fall speziell um Beleidigungsdelikte, die seit 150 Jahren nicht mehr verändert und entsprechend nicht dem Internetzeitalter angepasst wurden. Der Bund, der in diesem Fall die Gesetzgebungskompetenz hat, hat einen Punkt aus Justizminister Eisenreichs Konzept bereits aufgegriffen. Wer jetzt Menschen öffentlich, insbesondere im Internet, beleidigt, kann mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft werden – davor war es nur ein Jahr. Öffentliche Beleidigungen sind für Opfer erstens belastender, weil sie eine hohe Verbreitung erfahren, und zweitens schwerer zu entfernen sind. Nach den Plänen des bayerischen Justizministeriums sollen auch antisemitische oder fremdenfeindliche Beleidigungen härter be- straft werden, was aus Sicht der Praxis zu begrüßen ist.
BSZ Ist das gesellschaftliche Klima rauer geworden oder wird Hate Speech bewusster wahrgenommen?
Hartleb Natürlich wird auch genauer hingeschaut. Aber wir haben eine statistisch messbare Zunahme von Hasskommentaren, die sich nicht wegdiskutieren lässt. Vor allem seit der sogenannten Flüchtlingskrise.
BSZ Wie sehen weitere typische Opfer und wie klassische Täter aus?
Hartleb Nach einer Studie der Nichtregierungsorganisation Campact werden am häufigsten Politiker Opfer von Hate Speech gefolgt von Asylbewerbern und generell Menschen mit Migrationshintergrund. Antisemitische Hasspostings haben in letzter Zeit ebenfalls stark zugenommen. Hate Speech ist ein heterogenes Phänomen, sodass es den typischen Täter nicht gibt. Es gibt aber Erhebungen, dass 80 Prozent aus der rechten oder rechtsextremen Ecke kommen. Hier gibt es aber auch unterschiedliche Tätertypen: Einzeltäter, die sich zum Beispiel über das Flüchtlingsheim vor Ort aufregen, oder organisierte rechtsextreme Gruppen, die durch Vervielfältigungstechniken Hass und Hetze im Netz verbreiten.
„80 Prozent der Hasskommentare kommen aus der rechten oder rechtsextremen Ecke“
BSZ Bei den Ermittlungen in der Affäre um die rechtsextreme Drohschreibenserie „NSU 2.0“ führt eine Spur nach Bayern. Werden Sie sich künftig damit befassen?
Hartleb Derzeit führen wir den Fall in der Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus bei der Generalstaatsanwaltschaft München. Aktuell wird gegen die betroffene Person „nur“ wegen Waffendelikten ermittelt. Bei einer Hausdurchsuchung wurden verbotene Waffen gefunden. Ob der Beschuldigte auch für die Drohmails verantwortlich ist, untersucht derzeit die Staatsanwaltschaft Frankfurt.
BSZ Viele Täter kommentieren nicht unter ihrem Klarnamen. Wie gehen Sie bei den Recherchen vor?
Hartleb Wir nutzen verschiedene Ermittlungsmethoden, um auch solchen Tätern auf die Spur zu kommen. Diese kann ich aber, um künftige Ermittlungserfolge nicht zu beeinträchtigen, nicht im Einzelnen darlegen. Generell lässt sich aber sagen, dass es noch Verbesserungsbedarf bei der Täterermittlung gibt. Vor allem die großen sozialen Netzwerke kooperieren nur unzureichend mit uns. Eine Erhebung der Staatsanwaltschaft Köln hat gezeigt, dass nur jede 20. Anfrage beantwortet wird. Das ist sehr unbefriedigend. Zwar wird auf den Rechtshilfeweg verwiesen, der ist aber langwierig. Außerdem haben die USA eine andere Rechtsprechung als wir. Dort dürfen zum Beispiel auch Hakenkreuze gepostet werden. Wenn wir doch eine Antwort bekommen, sind die Spuren oft kalt.
BSZ Die Justizministerkonferenz fordert eine Wiederbelebung und Ausweitung der Vorratsdatenspeicherung. Datenschützer lehnen das ab. Wie stehen Sie dazu?
Hartleb Wenn wir Hate Speech wirksam bekämpfen sollen, brauchen wir auch die strafprozessualen Instrumente dafür. Die IP-Adressen werden aktuell, wenn überhaupt, nur sieben Tage gespeichert. Auch die faktische Aussetzung der Vorratsdatenspeicherung ist ein großes Problem. Sie stellt ein unverzichtbares Instrument bei der Täterermittlung dar.
BSZ Medienunternehmen und Kommunalpolitiker können bei Hate Speech jetzt online bei Ihnen Anzeige erstatten. Warum gibt’s das nicht für alle Bürger?
Hartleb Soziale Netzwerke müssen Kommentare nach der derzeitigen Rechtslage nur löschen, nicht aber zur Anzeige bringen. Das ist natürlich ein unbefriedigender Zustand, da keine Abschreckungswirkung erzielt wird. Das wäre, als ob man einem Ladendieb, auf frischer Tat ertappt, nur das Diebesgut abnimmt. Deshalb wurde das Projekt „Justiz und Medien-konsequent gegen Hass“ ins Leben gerufen. Für Kommunalpolitiker wird die Funktion im Herbst diesen Jahres freigeschaltet. Grund ist die Zunahme von Hass und Hetze gegenüber Kommunalpolitikern, die zunehmend demokratiegefährdend wird. Diese Maßnahmen sind Teil eines Maßnahmepakets gegen Hate Speech, das immer wieder neu bewertet und gegebenenfalls weiter ausgebaut wird.
BSZ Andere Bundesländer wie Hessen oder Nordrhein-Westfalen setzen bei der Bekämpfung von Hasskommentaren auf Schwerpunktstaatsanwaltschaften. Warum hat Bayern einen Hate-Speech-Beauftragten?
Hartleb Bayern hat Sonderdezernate zur Bekämpfung von Hate Speech bei jeder der 22 bayerischen Staatsanwaltschaften eingerichtet. Das bringt mehr als eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft, da eine Strafverfolgung vor Ort bei einem Massenphänomen wie Hate Speech effektiver geleistet werden kann. Meine Aufgabe ist es, die Sonderdezernate zu koordinieren und zu beraten sowie für eine einheitliche Rechtsanwendung zu sorgen. Inzwischen interessieren sich viele andere Bundesländer für unser Konzept.
BSZ Die Große Koalition will soziale Netzwerke am Sommer 2021 verpflichten, strafbare Hasspostings beim Bundeskriminalamt zur Anzeige zu bringen. Haben Sie dafür genug Personal?
Hartleb Ich denke, wir sind gut aufgestellt. Es gibt bei jeder der 22 bayerischen Staatsanwaltschaften mindestens einen Sonderdezernenten, bei den meisten Staatsanwaltschaften zwei und bei der Staatsanwaltschaft München I sogar noch mehr. Schätzungen gehen davon aus, dass durch das Gesetz bundesweit 150 000 bis 250 000 zusätzliche Ermittlungsverfahren entstehen. Dies wird uns natürlich schon vor erhebliche Herausforderungen stellen.
BSZ Was treibt Sie an, sich jeden Tag mit Hass und Hetze auseinanderzusetzen?
Hartleb Hate Speech ist ein großes Problem. Ich möchte mit meiner Arbeit verhindern, dass Hate Speech die Meinungsfreiheit unterdrückt. Schon jetzt trauen sich aus Angst viele Nutzerinnen und Nutzer nicht mehr, ihre Meinung zu sagen. Außerdem zeigt die Erfahrung, dass durch Filterblasen und Echokammern Menschen radikalisiert werden und aus Worten reale Gewalttaten werden können.
BSZ Sie nutzen persönlich keine sozialen Netzwerke. Haben Sie ebenfalls Angst vor Hasskommentaren?
Hartleb Nein. Ehrlich gesagt habe ich nicht die Zeit dafür, und auch gewisse Dienstpflichten sprechen dagegen. Ich bekomme aber trotzdem Hasskommentare – per E-Mail. Bisher war aber nichts eindeutig Strafbares darunter. Viele Kommentare sind polemisch. Beispielsweise hat mal einer geschrieben „der aus Bayern hat ja keine Ahnung vom Datenschutz“. Aber im Kern beinhaltet auch dieser Kommentar Sachkritik und zielt nicht nur auf eine persönliche Herabsetzung. (Interview: David Lohmann)
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