Seit der Corona-Pandemie leistet sich Bayern als einziges Bundesland einen eigenen Ethikrat. Anders als beim Deutschen Ethikrat hat das Parlament bei der Berufung und Entlassung kein Mitspracherecht. Ein ehemaliges Mitglied wirft dem Rat daher vor, er diene lediglich „dem Abnicken bereits gefasster politischer Beschlüsse“. Auch aus der Opposition kommt Kritik.
Vulnerable Gruppen beim Corona-Impfschutz nicht vergessen, pädagogische Konzepte für die von Schulschließungen betroffenen Kinder entwickeln und Kontaktbeschränkungen oder gar Lockdowns im nächsten Winter vermeiden: Das waren die ersten Empfehlungen des Bayerischen Ethikrats. Er wurde nach Beginn der Corona-Krise vor rund fünf Jahren von der Staatsregierung ins Leben gerufen und soll seitdem Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und sein Kabinett beraten. Die erste Stellungnahme veröffentlichten die Mitglieder im Sommer 2021.
Wieso profitiert der Landtag nicht von der Expertise?
Der Rat ist geschlechterparitätisch besetzt. Vorsitzende ist die ehemalige Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler, Stellvertreter der Soziologe Armin Nassehi. Die anderen 16 Fachleute kommen aus den Bereichen Theologie, Wirtschaft, Recht, Medizin, Technologie, Raumfahrt und Literatur. „Wir wollen Politik klug und verantwortungsvoll gestalten, dafür brauchen wir das ganze Bild“, erklärte Staatskanzleichef Florian Herrmann (CSU) und betonte das breite Fächerspektrum bei der Auftaktsitzung des Ethikrats in dieser Legislaturperiode.
In Deutschland leistet sich in dieser Form nur Bayern einen eigenen Ethikrat. Alle anderen Bundesländer verlassen sich auf die Expertise der Gelehrtengesellschaft Leopoldina oder des Deutschen Ethikrats, der unter anderem auch Empfehlungen für Bundesregierung und Bundestag abgibt. Das scheint durchaus logisch, da es schließlich keine großen ethischen Fragen unserer Zeit gibt, die nur in einem Bundesland von Bedeutung sind.
Laut Staatskanzlei arbeitet der Ethikrat „ehrenamtlich“. Auf Nachfrage der Staatszeitung räumt ein Sprecher allerdings ein, dass die Vorsitzende eine Entschädigung von 1000 Euro pro Monat erhält und alle Mitglieder Anspruch auf Ersatz ihrer Auslagen haben. Die Frage, nach welchen Kriterien die Ratsmitglieder ausgewählt werden, ließ die Staatskanzlei unbeantwortet. Der Deutsche Ethikrat wird jeweils zur Hälfte von Bundesregierung und Bundestag bestimmt. Er kann von diesen auch beauftragt werden, ein bestimmtes Thema zu bearbeiten – das geht in Bayern nicht.
Gerne hätte man gewusst, mit welchen Themen sich der Ethikrat in Zukunft beschäftigen wird, wie viele Treffen geplant sind und wie die geplante Neukonzeption mit Ad-hoc-Beratung aussehen wird. Doch die Vorsitzende ist nach eigenen Angaben einen Monat lang nicht zu erreichen, ihr Stellvertreter war bis Redaktionsschluss für eine Stellungnahme nicht greifbar. Einfache Mitglieder lehnten eine Antwort ab und verwiesen auf die Vorsitzenden. Selbst Fragen zur persönlichen Motivation, beim Ethikrat teilzunehmen, blieben auch auf Nachfrage unbeantwortet.
Der Schwerpunkt lag zuerst auf der Corona-Pandemie
Im Zeitraum von 2020 bis 2023 hat der Ethikrat in zwölf Sitzungen sieben Stellungnahmen und Erklärungen mit Handlungsempfehlungen veröffentlicht. Die Schwerpunkte lagen dabei zu Beginn vor allem auf der Corona-Pandemie. So empfahlen die Fachleute im November 2021, eine „partielle oder vollständige Impfpflicht“ sowie die 2G+-Regel einzuführen, bei der nur noch Geimpfte oder Genesene mit aktuellem Schnelltest am öffentlichen Leben teilnehmen durften. Später wurde dann gemahnt, Politik und Institutionen nicht pauschal für Fehler in der Pandemie zu verurteilen.
Nicht alle Ethikrat-Mitglieder waren damals mit den drastischen Einschränkungen während der Pandemie einverstanden. Einer davon war der Wirtschaftsethikprofessor Christoph Lütge von der Technischen Universität München. Er hielt den Lockdown für „mittelalterlich“ und forderte von der Staatsregierung die sofortige Aufhebung. Die kam, aber in anderer Form: Im Februar 2021 widerrief das Bayerische Kabinett Lütges Berufung in den Ethikrat. Dabei arbeitet dieser laut Staatskanzlei „unabhängig“.
„Davon kann keine Rede sein“, sagt Lütge darauf angesprochen rückblickend. Unabhängigkeit sei allein wegen der direkten Einsetzung des Ethikrats durch die Landesregierung und der ständigen Anwesenheit von Staatskanzleichef Herrmann bei den Sitzungen nicht gewährleistet. „Nach meiner Wahrnehmung hoffte man auf eine Sitzung ohne Kontroversen und auf ein Abnicken bereits gefasster politischer Beschlüsse. Aber einen solchen Ethikrat – ohne Kritik und Kontroversen, nur zur Akklamation – kann man sich dann auch sparen. Das hat keine Glaubwürdigkeit“, bilanziert Lütge.
Nach Corona befasste sich der Ethikrat auch mit anderen Themen, zum Beispiel dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. „Wir begrüßen das große zivilgesellschaftliche und staatliche Engagement bei der Aufnahme ukrainischer Geflüchteter“, hieß es in der Stellungnahme. Gleichzeitig dürften Menschen russischer Herkunft nicht unter Generalverdacht geraten. Beim Thema künstliche Intelligenz müssten Kinder, Studierende und Beschäftigte besser auf die digitale Welt vorbereitet werden. Beim assistierten Suizid sprach sich die Mehrheit des Ethikrats dafür aus, dies zuzulassen. So wie vorher auch das Bundesverfassungsgericht.
In der Landtagsopposition gehen die Meinungen über den Ethikrat weit auseinander. Während die SPD-Fraktion zufrieden ist und sich in Zukunft nur mehr Stellungnahmen zu einer europäischen Friedens- und Verteidigungspolitik wünscht, kommt von der AfD Kritik. „Angesichts der enormen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schäden, die die Söder-Regierung mit ihrer in Teilen rechts- und verfassungswidrigen Corona-Politik angerichtet hat, wäre ein echter Neuanfang geboten gewesen“, sagte Fraktionschefin Katrin Ebner-Steiner der BSZ. Für mehr Unabhängigkeit sollte bei der Berufung der Landtag eingebunden werden.
Die Grünen sind beim Ethikrat zwiegespalten. Einerseits lobt deren Abgeordneter Johannes Becher die Zusammensetzung des Rates. „Seltsam finde ich in einer Demokratie allerdings, dass der Ministerpräsident die Mitglieder des Ethikrats selbst einberufen und wieder absetzen kann.“ Außerdem wundert er sich, was die Staatsregierung mit den Empfehlungen macht. „Mir wäre nicht bekannt, dass sie öffentlich verkündet hätte, dass sie wegen Empfehlungen des Ethikrats konkret ihre Politik verändert“, erklärt Becher und wünschte sich daher eine Aussprache zu den Stellungnahmen im Parlament. Themen gäbe es nach den jüngsten Anschlägen oder Übergriffen im Wahlkampf genug. (David Lohmann)
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