Politik

Sein Markenzeichen war der gelbe Pullover: Hans-Dietrich Genscher ist im Alter von 89 Jahren gestorben. (Foto: dpa)

01.04.2016

Ex-Außenminister Genscher ist tot

Der FDP-Politiker starb in der Nacht zum Freitag im Alter von 89 Jahren an Herz-Kreislauf-Versagen. Politiker aller Parteien reagierten mit Bestürzung

Der Mann konnte reden, reden, reden. Aber den wichtigsten Satz seines Lebens brachte er nicht richtig zu Ende. 30. September 1989, auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ..." Weiter ließen die 4500 DDR-Bürger, die auf das Botschaftsgelände geflohen waren, Hans-Dietrich Genscher nicht kommen. Der Rest ging im Jubel unter.

Die Szene - so schlecht ausgeleuchtet, dass man Genscher auf den Bildern von damals kaum erkennt - war für Deutschlands längstgedienten Außenminister die Erfüllung seines politischen Lebens. Drei Jahre später trat der FDP-Mann zurück. Seinerzeit konnte sich kaum jemand vorstellen, dass der bundesdeutsche Außenminister und Vizekanzler anders heißen könnte. Am Donnerstag ist Genscher gestorben. Er wurde 89 Jahre alt.

Im Lauf von dreieinhalb Jahrzehnten politischer Karriere wurde der studierte Anwalt für viele zur Personifizierung der "Bonner Republik" - auch wenn er im Osten geboren wurde, in Halle an der Saale. Nach dem frühen Tod des Vaters - Genscher war neun - wuchs er allein bei der Mutter auf. Bei Kriegsende war er 18, kam in amerikanische Kriegsgefangenschaft.

Er war einer von Deutschlands beliebtesten Politikern: "Mister Bundesrepublik"

Kurz darauf erkrankte er an Tuberkulose, die damals kaum heilbar war. Insgesamt drei Jahre verbrachte er in Krankenhäusern und Lungenheilstätten. 1952 kam er mit der Mutter in den Westen, nach Bremen. 1956, als junger Jurist, zog er nach Bonn. Dort in der Nähe war er bis zum Schluss mit seiner Frau Barbara zu Hause. Die ARD erhob ihn sogar zum "Mister Bundesrepublik".

Genscher war aber auch selbst namensgebend. Im Kalten Krieg galt der "Genscherismus" eine Zeit lang als eigene politische Doktrin. Zunächst geschmäht als deutsche Schaukelpolitik zwischen Ost und West, dann gelobt als eine der Grundlagen für den Wegfall der Grenzen in Europa. Genscher war 1987 einer der ersten, die den sowjetischen Reformer Michail Gorbatschow beim Wort nehmen wollten - lange Zeit vor dem eigenen Kanzler, Helmut Kohl.

Dann folgten die Momente, in denen Genscher von seinen 18 Jahren im Auswärtigen Amt vermutlich am besten war. Der Mann, der die diplomatische Kunst des bedeutungsvollen Nichtssagens zur Perfektion entwickelt hatte, wurde zu einem der Macher der deutschen Einheit - auch wenn er gerade mit den Nachwirkungen von zwei Herzinfarkten zu kämpfen hatte.

Begnadeter Netzwerker: "Es geht darum, sich in die Schuhe des anderen zu stellen. Ihn zu gewinnen, aber nicht zu besiegen"

Genscher war ein begnadeter Netzwerker, bestens verdrahtet in nahezu alle Hauptstädte der Welt. Einer seiner Grundsätze: "Es geht darum, sich in die Schuhe des anderen zu stellen. Ihn zu gewinnen, aber nicht zu besiegen."

Sein Meisterwerk lieferte er 1990 mit dem "2+4-Vertrag" ab. Darin regelten die damals noch beiden deutschen Staaten mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs (USA, Russland, Großbritannien und Frankreich) die außenpolitischen Aspekte der Wiedervereinigung. Das war die Zeit, in der Genscher besonders populär war.

Als FDP-Außenminister führte er die Umfragen an - keineswegs eine Selbstverständlichkeit, wie man heute weiß. Das Satiremagazin "Titanic" verschaffte ihm als allgegenwärtigem "Genschman" (mit schwarzer Maske) ungewollt zusätzliche Beliebtheit. Mit seinem ewig gleichen gelben Pullunder wurde er stilbildend für ganze Generationen von deutschen Rentnern.

Im Mai 1992, mit 65 Jahren, trat Genscher als Außenminister zurück - aus freien Stücken und zur allgemeinen Überraschung. Die Nachfolger hatten es schwer. Frank-Walter Steinmeier adelte ihn trotzdem später zum "immerwährenden Außenminister" ehrenhalber. Vergessen wird jedoch gern, dass Genscher auch vor dem Auswärtigen Amt schon Politik gemacht hatte - und dass er öfters auch sehr umstritten war.

Beim Olympia-Attentat bot sich Genscher als Ersatzgeisel an

Nach einigen Jahren als wissenschaftlicher Assistent der FDP-Fraktion war er 1965 zum ersten Mal in den Bundestag eingezogen. Als Fraktionsgeschäftsführer gehörte er gleich zu den wichtigen Strippenziehern. In der ersten sozial-liberalen Koalition wurde er Innenminister.

In diese Zeit fiel einer seiner schlimmsten Momente: Als ein Palästinenserkommando 1972 in München das israelische Olympia-Team überfiel, bot sich Genscher als Ersatzgeisel an. Die Befreiungsaktion missriet komplett. Viel zum Rücktritt fehlte nicht. Später, als er Lebensbilanz zog, meinte er: "Der Tiefpunkt war ganz sicher München 1972."

Im Herbst 2014 stand er noch einmal auf dem geschichtsträchtigen Balkon in Prag

Es wäre das vorzeitige Ende einer großen Karriere gewesen. Genscher war Vize von drei verschiedenen Kanzlern unterschiedlicher Couleur, was ihm den Vorwurf der Wendigkeit einbrachte. Als die FDP 1982 von der SPD zur Union wechselte, war er sogar zwei Wochen lang ohne Ministerposten. Die Partei flog damals fast auseinander, musste um den Wiedereinzug in den Bundestag bangen, er selbst wurde als "Wendehals" beschimpft. 1985 trat er nach zehn Jahren als Parteichef zurück. 1998, bevor es nach Berlin ging, verabschiedete er sich nach 33 Jahren auch aus dem Bundestag. In der neuen Hauptstadt war er immer nur Gast. Manchmal, wie bei der Freilassung des Kreml-Kritikers Michail Chodorkowski kurz vor Weihnachten 2013, spielte er noch eine wichtige Rolle. Bis kurz vor seinem Tode meldete er sich mit Meinungsbeiträgen zu Wort, naturgemäß vor allem zur Außenpolitik. Weniger gern redete er über das Siechtum der FDP, deren Ehrenvorsitzender er war.

Im Herbst 2014 war er nochmals an der Stelle, wo er seinen "glücklichsten Augenblick" (so Genscher selbst) erleben konnte: auf jenem Balkon in Prag. Mit einigen Dutzend Flüchtlingen von damals feierte er nochmal. Er verabschiedete er sich dann aber etwas früher als geplant. Bei der Gelegenheit erlaubte er auch einen Einblick in seine Gedanken über den eigenen Nachruf. "Wenn der Akteur Genscher einmal die Augen schließt, wird so viel da sein. Da kann unendlich geschrieben werden." Auch damit lag er nicht falsch. (dpa)

"Wir haben ihm viel zu verdanken" - Reaktionen auf Genschers Tod
Politiker aller Parteien reagierten bestürzt auf den Tod des FDP-Politikers. Eine Auswahl der Reaktionen:

Bundespräsident Joachim Gauck:
"Mit seiner Verlässlichkeit und seinem diplomatischen Geschick hat Hans-Dietrich Genscher unserem Land in der Welt ein Gesicht gegeben und das Vertrauen bei unseren Partnern gestärkt."
"Beharrlich, allgegenwärtig und mit feinem Gespür für historische Momente hat er das friedliche Zusammenwachsen unseres Landes und unseres Kontinents vorangetrieben", erklärte der Bundespräsident." FDP-Chef Christian Lindner:
"Genscher hat Geschichte geschrieben und unser Land geprägt. Wir haben ihm viel zu verdanken. Unsere Trauer kann nicht größer sein."
"Nach Guido Westerwelle verlieren wir eine zweite unserer großen Persönlichkeiten." Ex-FDP-Chef Philipp Rösler:
"In tiefster Trauer und voll von unendlichem Respekt vor Hans-Dietrich Genschers Leistungen für Deutschland, Europa und die Welt. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU):
"Mit Hans-Dietrich Genscher geht einer der ganz Großen."
"Auch nach seinem Rückzug aus der aktiven Politik hat sich Hans-Dietrich Genscher immer wieder zu Wort gemeldet und sein Wort hatte stets Gewicht. Mein Mitgefühl gilt seinen Angehörigen. Wir verneigen uns vor einem leidenschaftlichen Homo politicus." Landtagspräsidentin Barbara Stamm (CSU):
"Sein politischer Sachverstand und das große Vertrauen, das er auf Grund seiner persönlichen Integrität im In- und Ausland genossen hat, haben entscheidend zur Schaffung eines geeinten Deutschlands und Europas beigetragen."
"Wir verabschieden uns von einem liebenswürdigen Menschen und großen Staatsmann, dem unser Land viel zu verdanken hat.“ SPD-Fraktionsvorsitzender im Landtag, Markus Rinderspacher:
"Als dienstältester Außenminister Deutschlands war Genscher ein Meister der Diplomatie und des politischen Kompromisses. So hat er großen Anteil am über die Jahre gewachsenen Vertrauen Deutschlands in der Welt. Was Genscher an europäischer Integration und Zusammenarbeit mitaufgebaut hat, gilt es in den nächsten Jahren gegen den wiedererstarkten Nationalismus in Europa zu verteidigen." Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Deutsche Bundestag, Gerda Hasselfeldt:
„Mit Hans-Dietrich Genscher verliert Deutschland einen großen Staatsmann."
"Wie kaum ein anderer verkörperte er im Kalten Krieg den Einsatz für Freiheit und Frieden. Dafür gilt ihm der Dank unseres Landes. Ich verneige mich vor einem großen Sohn der Bundesrepublik." Grünen-Parteichef Cem Özdemir:
"Unser Mitgefühl gilt seinen Angehörigen. Mit H.-D. Genscher verlieren wir großen Staatsmann. Stand wie Brandt für Öffnung Deutschlands." Grünen-Parteichefin Simone Peter:
"Die FDP trifft es wirklich hart in diesen Tagen. Unser Beileid und Verneigung vor einem großen Politiker, Hans-Dietrich." SPD-Vize Ralf Stegner:
"Hans-Dietrich Genscher gestorben. Sicher einflussreichster Freidemokrat der letzten Jahrzehnte. Erfahrener Außenminister+Mann der "Wende"."
"Das Jahr 2016 brachte nach meinem Gefühl in gerade mal drei Monaten schon allzuviele Todesnachrichten." CDU-Vize Armin Laschet:
"Ein großer Staatsmann, ein großer Liberaler, ein großer Europäer - er stand für das Beste der Bonner Republik." Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour:
"Er war Jahre lang das freundliche Gesicht Deutschlands in der Welt. Nun ist Hans-Dietrich Genscher verstorben. Ruhe er in Frieden." Fotos dpa:
Hans-Dietrich Genscher (r) und Lothar de Maiziere unterzeichnen den "2+4-Vertrag" - ein Meisterwerk des langjährigen Außenpolitikers. Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag im Jahr 2014.

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Soll die tägliche Höchstarbeitszeit flexibilisiert werden?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2024

Nächster Erscheinungstermin:
28. November 2025

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 29.11.2024 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.