Angesichts der sich zuspitzenden Personalnot an den Schulen nimmt der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) den Ministerpräsidenten in die Pflicht. Markus Söder müsse den Lehrermangel endlich zur Chefsache machen, fordert BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. Und schlägt auch Unkonventionelles vor, um schnell Abhilfe zu schaffen.
BSZ: Frau Fleischmann, die Sommerferien stehen vor der Tür und damit die Zeit zum Durchschnaufen für die Schulfamilie. Auch für die Verantwortlichen in der Bildungspolitik?
Simone Fleischmann: Nein, angesichts der aktuellen Herausforderungen darf niemand in die Ferien gehen, der politische Verantwortung für den Schulstart in Bayern trägt. Denn jetzt herrscht akuter Handlungsbedarf: beim Thema Corona, bei der Frage der Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine sowie, allem voran, hinsichtlich des eklatanten Lehrermangels, der inzwischen auch von keinem Bildungspolitiker mehr angezweifelt wird.
BSZ: Angesichts der derzeit hohen Inzidenzen graut es vielen Lehrkräften vor einem neuerlichen Corona-Herbst mit Maskenpflicht, flächendeckenden Tests, Distanzunterricht und womöglich sogar Schulschließungen …
Fleischmann: Ich denke, alle Entscheidungsträger sind sich einig, dass wir Schulschließungen im Herbst vermeiden wollen. Was wir jetzt dringend benötigen, ist ein fundiertes Corona-Management mit konkreten Maßnahmen für die Zeit nach den Ferien. Ich würde mir wünschen, dass darin verschiedene Szenarien aufgezeigt würden – nach dem Motto: Wenn A passiert, dann machen wir B.
BSZ: Auch als Orientierung für die Schulleitungen?
Fleischmann: Ja, denn dort schlagen schon jetzt die Fragen der Eltern auf. Gibt es wieder eine Maskenpflicht? Was ist mit flächendeckenden Tests? Und dürfen schwangere Lehrerinnen wieder in Präsenz unterrichten? Bei all diesen Fragen herrscht zurzeit viel Unsicherheit. Deshalb fordern wir als Verband hier klare Antworten – in Form eines Corona-Managements.
BSZ: Eine weitere Herausforderung im neuen Schuljahr wird die Integration der Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine sein, von denen schon jetzt 25 000 in bayerischen Klassenzimmern sitzen. Sie sollen künftig nicht mehr in Willkommens-, sondern in Brückenklassen unterrichtet werden.
Fleischmann: Und das Konzept, das der Kultusminister dazu vorgelegt hat, verdient aus pädagogischer Sicht eine Eins mit Stern. Auch die Schaffung von 1620 neuen Vollzeitstellen ist der richtige Weg – wenngleich das nicht reichen wird, wenn die Zahl an ukrainischen Schülern kommt, die wir erwarten. Allein, der Haken an diesem an sich exzellenten Konzept der Brückenklassen ist die Frage: Wo sollen all die Köpfe herkommen?
BSZ: Womit man bei einem altbekannten Thema ist: dem Lehrkräftemangel ...
Fleischmann: … den inzwischen niemand mehr ernsthaft bestreitet. Es ist zwar schön und gut, dass die Staatsregierung zusätzliche Mittel bereitstellt, indem sie Stellen freigibt. Aber ich sage immer: Geld macht keinen Unterricht. Wir brauchen Menschen, um diese Stellen zu besetzen – und die gibt es momentan nicht in ausreichender Zahl. Deshalb muss das Thema Lehrkräftemangel jetzt endlich zur Chefsache werden. Das habe ich dem Ministerpräsidenten in sein Hausaufgabenheft geschrieben.
BSZ: Was fordern Sie konkret von Markus Söder?
Fleischmann: Drei Dinge. Erstens, attraktive Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte. Zweitens, die gleichwertige Besoldung von Grund- und Mittelschullehrerinnen und -lehrern, sodass sie im Vergleich zu ihren Kollegen und Kolleginnen an Realschulen und Gymnasien nicht mehr schlechter gestellt sind. Und drittens braucht es eine flexible Lehrerbildung, um die Ausbildung für junge Menschen wieder attraktiver zu machen. Denn aktuell wird an Schulen und Universitäten noch nach Konzepten des vergangenen Jahrhunderts gelehrt und gelernt.
BSZ: Mit attraktiven Arbeitsbedingungen meinen Sie zuvorderst Gehalt und Arbeitszeiten?
Fleischmann: Nein, das betrifft eher andere Bereiche. Zufriedene Lehrkräfte brauchen vor allem zufriedene Schülerinnen und Schüler. Oder ganz konkret gesagt: Wenn ich morgens als Lehrerin in die Schule fahre und weiß, was mich erwartet, und am Nachmittag oder Abend wieder heimfahre und mir denke, ja, heute konnte ich meinen Schützlingen das geben, was sie brauchen – dann sind das attraktive Arbeitsbedingungen.
BSZ: Und was bedeutet das in konkrete Maßnahmen übertragen?
Fleischmann: Zum Beispiel braucht es aus meiner Sicht zwei Lehrkräfte pro Klasse. Ganz einfach, weil wir wissen und täglich vor Augen geführt bekommen, dass wir bestimmten Kindern nicht gerecht werden, die mehr als nur eine Bezugsperson in der Schule benötigen. Wobei die zweite Person nicht unbedingt eine Lehrkraft sein muss. Hier braucht es mehr Multiprofessionalität an den Schulen.
„Auch wer nicht Lehramt studiert hat, kann mal in einer Klasse helfen“
BSZ: In Form von Menschen aus der Sozialarbeit?
Fleischmann: Das auch, aber darüber hinaus benötigen wir noch mehr helfende Hände. Ich denke da an Logopädinnen und Psychologen. Oder auch an Schulkrankenschwestern, wie es sie in anderen Bundesländern gibt. Wichtig sind natürlich auch Förderlehrkräfte. Nur haben wir hier das Problem, dass diese zurzeit als Klassenleitungen einspringen müssen, um die Löcher zu stopfen, die der Lehrermangel gerissen hat. So haben Förderlehrkräfte im Schuljahr 2020/21 circa 500 Grund- und Mittelschullehrer ersetzt – statt die Kinder an diesen Schulen gezielt zu fördern, wie es eigentlich ihre Aufgabe wäre.
BSZ: Womit wir wieder beim Lehrkräftemangel wären. Wie lässt sich hier Abhilfe schaffen?
Fleischmann: Eine kurzfristige Lösung können natürlich Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger sein. Wir haben inzwischen 17 verschiedene Berufsgruppen, die an unseren Schulen arbeiten. Und ich sage immer: Ein Mensch mehr in der Klasse ist besser als keiner. Allerdings muss man sich auch bewusst sein, dass dann jemand vor der Klasse steht, der nicht Lehramt studiert hat und dem ganz viel an Grundkompetenz fehlt. Und das geht letztlich zulasten der Bildungsqualität.
BSZ: Und langfristig?
Fleischmann: Langfristig ist der einzige Weg, um dem Lehrkräftemangel wirksam zu begegnen, das Studium, die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung zu verbessern. Diese Lösung liegt auf der Hand. Wovor ich jedoch eindringlich warne, ist die Einstellung: Die Lehrerinnen und Lehrer werden das schon reißen. Auf die Selbstausbeutung der Lehrkräfte setzen und dass deren Berufsethos als Pädagoginnen und Pädagogen sie dazu treiben wird, das irgendwie zu schaffen – das ist keine Lösung! Und das gefährdet die Gesundheit der Lehrkräfte …
BSZ: Inwiefern?
Fleischmann: Die anhaltende Überlastung ist ein gesundheitliches Risiko. Schon jetzt gehen deutlich mehr Lehrerinnen und Lehrer wegen Dienstunfähigkeit in Pension als früher. Dazu registrieren wir eine steigende Zahl von Burn-out-Fällen. Und im letzten Jahr haben bayernweit 70 Schulleitungen an Grund- und Mittelschulen hingeschmissen, weil sie die Aufgaben einfach nicht mehr stemmen konnten. Diese Entwicklung ist besorgniserregend – und diese Sorgen sollte auch die Staatsregierung mit uns teilen.
BSZ: Wird das Problem Lehrkräftemangel inzwischen auf höchster Ebene wahrgenommen?
Fleischmann: Ja, wenn man sich die jüngsten Reden des Ministerpräsidenten anhört, dann gibt es Signale, dass er die Dringlichkeit erkannt hat. Zwar ist bis jetzt noch nichts ins Feld gesetzt worden, aber ich glaube daran, dass der Ministerpräsident einsichtig ist und seinen Worten auch Taten folgen lässt. Und wenn dem nicht so ist, dann werden wir ihn ganz sicher daran erinnern. (Interview: Patrik Stäbler)
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