Um vier Uhr morgens ist sie an diesem Tag wach geworden. An Einschlafen war nicht mehr zu denken. „Es ist zu vieles wieder hochgekommen“, sagt Maria Weiche. Die 64-Jährige steht im Maximilianeum, der Sozialausschuss des Bayerischen Landtags hat eine Anhörung von rund 80 ehemaligen Heimkindern organisiert.
Auch Weiche war im Heim– vier Jahre lang. In welchem, das weiß die Münchnerin nicht. Damals war sie noch ein Baby. Die späteren Adoptiveltern haben alle Unterlagen und Akten vernichtet. Verschwommen sind Weiches Erinnerungen. Deutlich aber die Folgen. Bis ins Erwachsenenalter hatte sie körperliche Ticks. „Das kommt mit Sicherheit davon, dass ich angebunden war“, sagt sie. Psychische Probleme belasten sie noch heute. Einen Panzer habe sie sich zugelegt, erzählt Weiche – „von den vielen Schlägen in den Nacken“. Gefühle zuzulassen, musste sie erst lernen. „Als Kind habe ich meine Tränen versteckt“, sagt sie. Denn weinte sie, wurde sie beschimpft.
An diesem Tag fließen viele Tränen im Landtag. Einige flüchten vor die Tür, so aufgewühlt sind sie. Was die ehemaligen Heimkinder erleiden mussten, ist erschütternd: Sie erzählen von Prügeln, Essens-entzug, Demütigung, Zwangsarbeit und sexueller Gewalt.
"Es gab keine Inszanz, die zugehört hätte"
Richard Sucker hatte eine Petition im Landtag eingereicht – vor vier Jahren. Als Anderthalbjähriger war er seiner Mutter weggenommen worden, weil er unehelich war. Diskriminiert als „Hurenkinder“ wurden unehelich Geborene oft in Heimen „regelrecht entsorgt“, berichtet Sozialpädagoge Manfred Kappeler. „Die Kinder selbst erfuhren oft nichts über ihre Herkunft.“
Auch Sucker wurde gesagt, er sei ein Waisenkind – obwohl die Eltern lebten. Der 79-jährige Nürnberger war in einigen Heimen, das schlimmste aber sei das der Rummelsberger Anstalten in Naila bei Hof gewesen. Sucker erzählt, wie er dort erleben musste, dass ein Kind im Nebenbett starb: Martin hatte Fieber, war von Schlägen und vom Essensentzug geschwächt. „Aber ins Krankenhaus hat man ihn nicht gebracht“, sagt Sucker. „Denn die Ärzte dort hätten ja die Spuren der Misshandlungen mit dem Ochsenziemer gesehen.“ Der Ochsenziemer, eine Schlagwaffe aus einem gedörrten Bullenpenis, kam selbst bei Nichtigkeiten zum Einsatz. Es reichte, dass Nägel an der Schuhsohle fehlten. Er habe versucht, sich umzubringen, so Sucker. „Zwei Mal riss der Strick ab.“
Viele der ehemaligen Heimkinder sind wütend – auch auf die heutige Politik. Ausschussvorsitzende Brigitte Meyer (FDP) drückt „ihr tiefes Bedauern“ aus. Und Landtagspräsidentin Barbara Stamm (CSU) betont, dass sich der Landtag nicht der Verantwortung entziehen wolle. Doch den meisten Betroffenen genügt das nicht. Sie fordern Wiedergutmachung – vor allem finanzieller Art.
Der Berliner Professor Kappeler unterstützt sie in ihren Forderungen. Er berichtet davon, wie lange „die schrecklichen Verhältnisse“ auch in bayerischen Kinderheimen den zuständigen Stellen bekannt waren – ohne das etwas geschah. Die Kinder und Jugendlichen „hatten keine Chance“, sagt er. „Es gab keine Instanz, die ihnen zugehört oder gar geglaubt hätte.“
Seit vergangenem Jahr gibt es den Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ mit einem Volumen von 120 Millionen Euro. Er war eine Empfehlung des Runden Tisches in Berlin und wird zu je einem Drittel von Bund, Ländern und Kirchen getragen.
Doch zufrieden sind die Betroffen und auch Experte Kappeler nicht. Die Rentenausgleichszahlungen von jeweils 300 Euro aus dem Fonds stehen nur denjenigen zu, die ab einem Alter von 14 Jahren in den Heimen zur Arbeit gezwungen wurden. Oft aber mussten auch schon Zehnjährige und Jüngere ran: Reinigung der Häuser, Bestellung der Gärten, landwirtschaftliche Aufgaben bis hin zum Holzhacken – all das wurde nicht selten in Zwangsarbeit von Kindern und Jugendlichen erledigt. „So wurden Personalkosten eingespart“, erklärt Kappeler.
Albträume vom Tod des Buben im Bett nebenan
Für die Schulausbildung blieb da kaum Zeit. Viele Kinder durften nur dann in die Hilfsschule, wenn jahreszeitliche Schwankungen sie für die Arbeit in der Landwirtschaft entbehrlich machten. „Mehrstellige Milliardenbeträge wurden so erwirtschaftet“, sagt Kappeler, „die Jugendsozialträger und damit auch die Steuerzahler entlastet.“ Und viele der ehemaligen Heimkinder leben in Altersarmut.
In München gibt es seit Anfang des Jahres eine Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder in Bayern. Dort können Betroffene ihre finanziellen Ansprüche geltend machen. Doch Sucker klagt: „Das Leid wird niemals gesühnt werden, weil Staat und Kirche es nicht wollen.“ Er fordert als Entschädigung ein Tagegeld von 34 Euro für die Opfer. „In meinem Fall also mal 325 Tage mal 19 Jahre.“
Skurril ist aber auch: Die Kosten für die Beratungsstellen in den Ländern werden ebenfalls aus dem Fonds bezahlt. Das sei „Diebstahl“, empört sich einer der Anwesenden. Zwölf Millionen Euro an Hilfe fehlen dadurch den Betroffenen, kritisiert auch Kappeler. Er fordert vom Freistaat, auf „die Refinanzierung aus dem Fonds zu verzichten“, den Betrag mit Landesmitteln aufzustocken und den Opfern zur Verfügung zu stellen.
Am Ende verspricht Meyer vage, über die praktischen Anregungen im Sozialausschuss zu beraten. Sie sieht in der Veranstaltung den Beginn eines Dialogs zwischen Landtag und Betroffenen. Dankbar sei sie, wie der Tag gelaufen ist. Denn etwas „Bammel“ hätte sie gehabt.
Professor Kappeler zieht ein ernüchterndes Fazit: „Meine Erwartung an die Politiker war niedrig.“ Zu recht, meint er: „Denn auf kaum eine kritische Frage gab es eine Antwort.“ Für Maria Weiche war der Tag „eine kleine seelische Würdigung“, sagt sie. Es habe ihr gutgetan, mit anderen Betroffenen zu sprechen. Sie will nun in München eine Gruppe für ehemalige Heimkinder initiieren – „nicht für Therapietreffen, sondern zur Freizeitgestaltung.“ Kontakt zu Weiche bekommt man über die Münchner Anlaufstelle. (Angelika Kahl)
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