In Scharen strömen Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof aus den Zügen. An den Bahnsteigen begrüßen Einheimische sie mit ausschweifender Herzlichkeit - fast als wären es enge Verwandte: "Refugees welcome" steht auf Transparenten; Menschen stehen Spalier und applaudieren, als im September 2015 die Ankömmlinge, das wenige Hab und Gut oft in Plastiktüten unter dem Arm, über die Bahnsteige drängen, um von der Polizei Richtung Erstaufnahmeeinrichtung geleitet zu werden.
"Wir schaffen das", verspricht Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Ihr Satz ist ebenso in Erinnerung wie die Bilder der Menschen, die teils mit Foto der Kanzlerin in der Hand in München aus dem Zug steigen. In der Nacht zum 5. September einigen sich Merkel und ihr österreichischer Kollege Werner Faymann angesichts massiv steigender Flüchtlingszahlen in Ungarn darauf, die Menschen einreisen zu lassen.
Mehr als 1,1 Millionen Menschen stellen 2015 und 2016 bundesweit Asyl-Erstanträge, in Bayern sind es rund 150 000. "Ich bin überzeugt: Wir haben es gemeinsam geschafft", sagt die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) heute, die damals am Münchner Hauptbahnhof war. Sie habe so viele Helfer gesehen. "Bäcker, die Brot verteilten und Freiwillige, die bis tief in die Nacht Schlafplätze organisierten. Die Solidarität in der Gesellschaft war grandios und grenzenlos", sagt Roth. "Es war das einzig Richtige, die Grenzen nicht zu schließen und Menschen einen sicheren Zufluchtsort zu bieten."
Viele konnten bleiben - und viele sind heute gut integriert. "Natürlich haben wir das geschafft", sagt auch Alexander Thal vom Bayerischen Flüchtlingsrat. Wenn Länder wie Libanon oder Jordanien Hunderttausende aufnehmen könnten, sei das in Deutschland erst recht möglich. "Ein Land mitten in Europa mit so einer Wirtschaftsleistung schafft das locker."
Die Union vor einer Zerreißprobe
Ganz so einfach war es freilich nicht. In Köln kommt es in der Silvesternacht 2016 zu Übergriffen von Flüchtlingen auf Frauen. Rechte gießen Öl ins Feuer. Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte häufen sich. Die Union steht vor einer Zerreißprobe: Horst Seehofer (CSU), damals bayerischer Ministerpräsident, kanzelt die Kanzlerin ab und fordert eine Obergrenze. Die Pegida-Bewegung nimmt Fahrt auf, die AfD erstarkt - und zieht in viele Parlamente ein.
Dennoch ziehen viele nach fünf Jahren eine positive Bilanz. "Unter dem Strich haben die Kommunen das damals gut gemeistert. Es hat am Anfang durchaus geruckelt, angesichts der hohen Zahlen der Flüchtlinge und der Zahl der Aufgaben verwundert das nicht", sagt der Sprecher des Deutschen Städte- und Gemeindebundes (DStGB), Alexander Handschuh. "Ohne die vielen engagierten Freiwilligen vor Ort hätte das nicht funktioniert", sagt auch er. "Jetzt stehen die Kommunen vor der Langfristaufgabe Integration." Meist klappe diese gut. "Ein Gutteil der Menschen ist in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt."
In Bayern stammen laut Bayerischem Industrie- und Handelskammertag inzwischen 6500 und damit rund fünf Prozent der Auszubildenden in IHK-Berufen aus Flucht-Ländern. "Die Integration durch die Berufsausbildung ist für Bayerns Betriebe trotz aller anfänglichen rechtlichen Hürden und Sprachprobleme mittlerweile gelebte Praxis. Die Unternehmerinnen und Unternehmer beschäftigen wegen des Fachkräftemangels und aus ihrer gesellschaftlichen Verantwortung heraus erfolgreich Flüchtlinge", sagt IHK-Präsident Eberhard Sasse.
Der große Anfangsandrang allerdings polarisierte und schürte Sorgen, es könne so weitergehen. 2018 geraten die Kanzlerin und Seehofer, nun Bundesinnenminister, in der Migrationsfrage erneut aneinander: Seehofers will Asylsuchende gleich an der Grenze abweisen. Bayern führt eine bayerische Grenzpolizei ein - auch um Kriminelle schon bei der Einreise abzufangen, wird betont. Gesetze zu Arbeitsmöglichkeiten und Sozialleistungen werden strenger gefasst.
Streit um Ankerzentren
Die Asylbewerberzahlen gehen zurück. 2018 waren es knapp 162 000 Asyl-Erstanträge (Bayern: knapp 22 000), 2019 knapp 143 000 (Bayern: gut 18 000). Wurden 2015 und 2016 laut Bayerns Innenministerium 585 000 Asylbewerber (Bayern: 76 000) anerkannt, waren es 2018 knapp 76 000 und 2019 gut 70 000. (Bayern: je ca. 8100). Die Anerkennungsquote sinkt - und liegt im Freistaat meist unter dem Bundesschnitt.'
Mit der Schließung der Balkanroute und dem Türkei-Deal der EU riskieren immer mehr Flüchtlinge den oft tödlichen Weg über das Mittelmeer. Schleuser bringen sie eingepfercht auf Lastwagen unter teils menschenunwürdigen Umständen oder als blinde Passagiere auf Güterzügen etwa nach Deutschland. Für viele ist die Ankunft ernüchternd: Massenunterkunft. Warten auf den amtlichen Bescheid. Keine Arbeitserlaubnis. Oft monatelang.
Die von Seehofer konzipierten Ankerzentren als Massenunterkünfte sollen durch ein Zusammenspiel der Behörden unter einem Dach die Asylverfahren und damit auch eine Abschiebung derjenigen beschleunigen, die kein Bleiberecht bekommen. "Die großen Lager verschärfen nicht nur die Situation für die Betroffenen und erhöhen die psychische Belastung. Und es sind Rieseninfektionsherde - die hat man staatlich geschaffen", sagt Thal vom Flüchtlingsrat. Das sei gerade in Corona-Zeiten besonders kritisch.
Auch Roth kritisiert: "Wir machen uns im Alltag überall Gedanken, wie wir uns gemeinsam schützen können, aber lassen Geflüchtete seit Beginn des Ausbruchs weiter auf engstem Raum hausen." In der Kritik sind auch Abschiebungen mitten in der Corona-Zeit. Thal: "Man muss halt mal die Füße still halten, wenn einen eine Pandemie überrollt."
(Sabine Dobel, dpa)
Weniger Asylanträge - viele Geflüchtete in Ausbildung und Arbeit In der Corona-Zeit sind die Asylbewerberzahlen deutlich zurückgegangen. In diesem Jahr stellten bis Ende Juli nach Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) knapp 55 800 Geflüchtete bundesweit einen Asyl-Erstantrag, davon rund 6700 in Bayern. In den Flüchtlingsjahren 2015 und 2016 hatten mehr als 1,1 Millionen Menschen Asyl-Erstanträge gestellt, in Bayern rund 150 000. Danach fielen die Zahlen. 2018 waren es knapp 162 000 Erstanträge (Bayern: knapp 22 000), 2019 knapp 143 000 (Bayern: gut 18 000).
Bei denjenigen, die bleiben konnten, sieht Bayerns Innenministerium große Integrationserfolge. Im Oktober 2015 habe die Staatsregierung mit der bayerischen Wirtschaft und der Regionaldirektion Bayern der Bundesagentur für Arbeit die Initiative "Integration durch Ausbildung und Arbeit" gestartet. Damit sollten 60 000 Flüchtlinge bis Ende 2019 in Arbeit integriert werden. Bereits im Frühjahr 2018 sei dieses Ziel vorzeitig erreicht worden. Insgesamt seien rund 149 500 Praktikumsplätze vergeben und 17 900 Ausbildungsverträge geschlossen worden. Mehr als 116 000 Flüchtlinge konnten an einen Arbeitsplatz herangeführt werden, fast doppelt so viele wie beim Start der Initiative vereinbart. "Die Initiative war damit ein voller Erfolg."
Seit 2016 wurden immer weniger Asylbewerber anerkannt. Auch die Anerkennungsquote fiel; in Bayern lag sie meist unter Bundesschnitt. 2015 und 2016 wurden 585 000 Asylbewerber (Bayern: 76 000) anerkannt, die Quote lag im Bund bei 49,8 sowie 62,4 Prozent (Bayern: 46,1 und 64,7 Prozent). Am niedrigsten war die Anerkennungsquote 2018 mit bundesweit 35,0 und bayernweit 27,9 Prozent. 2020 wurden bis Ende Juli gut 37 300 Flüchtlinge anerkannt, eine Quote von 40,6 Prozent. (Bayern: knapp 3900 / 32,8 Prozent).
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