Politik

Corona-Test: Henning Ernst Müller fordert repräsentative Stichproben, denn nur sie lassen auf die tatsächlichen Fallzahlen schließen. (Foto: dpa/ Jens Büttner)

30.04.2020

"Harte Fakten? Fehlanzeige!"

Der Regensburger Strafrechtler und Kriminologe Henning Ernst Müller über das bis dato unerforschte Dunkelfeld in der Pandemie

Es sind meist Virologen, die sich zum Stand der Covid-19-Pandemie äußern. Dabei wäre die Sozial- und die Rechtswissenschaft mindestens genauso gefragt. Henning Ernst Müller, 1961 in Leverkusen geboren, leitet den Lehrstuhl für Strafrecht, Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzugsrecht an der Uni Regensburg. Er erklärt das Statistik-Problem der Pandemie.

BSZ Herr Müller, was kann ein Strafrechtler und Kriminologe zum Verständnis von Infiziertenzahlen beitragen?
Henning Ernst Müller Die Berichterstattung zu Corona wird von der Anzahl der Infizierten dominiert. Dabei beruhen die Infiziertenzahlen weitgehend auf der Anzahl, der Örtlichkeit und den Kriterien, die zu einem Test führen. Die tatsächliche Anzahl der Infizierten bleibt unbekannt, ganz ähnlich, wie das in der Kriminalstatistik bei den Kontrolldelikten, zum Beispiel Betäubungsmitteldelikte, der Fall ist: Deren Zahl hängt nahezu ausschließlich davon ab, ob und wie stark die Polizei den Deliktsbereich kontrolliert. Eine Vervielfachung der Tests führt bei Covid-19 auch zu einer Vervielfachung der Infiziertenzahl. Wie in der Kriminologie kann man davon sprechen, dass die vermehrten Kontrollen möglicherweise nur das bisherige Dunkelfeld ausschöpfen.

BSZ Die entscheidende Größe bei Ihrer Betrachtung ist das Dunkelfeld, das sowohl in der Kriminologie als auch bei der Epidemiologie oft größer ist, als es eine rationale Analyse erlaubt. Woher kommt die offensichtlich weitverbreitete Bereitschaft, das Dunkelfeld zu ignorieren?
Müller Alle, die sich mit der Materie auskennen, wissen, dass es ein Dunkelfeld gibt, und in jedem Bereich wird seitens der empirischen Sozialforschung versucht, jenseits offizieller Kontrollen, Tests und Statistiken Dunkelfeldforschung zu betreiben. Dringend erscheint mir, dass man repräsentative Bevölkerungsstichproben testet, also auch Personen, die nicht den bisherigen Kriterien entsprechen. Inzwischen fordern das immer weitere Forscher aus unterschiedlichen Disziplinen. Von solchen Stichprobenergebnissen könnte man auf die tatsächliche Infiziertenanzahl hochrechnen. Wenn man dies regelmäßig wiederholt, könnte man auch die tatsächliche Ausbreitungsgeschwindigkeit besser einschätzen, ebenso die Wirksamkeit von Distanzmaßnahmen oder einer Maskenpflicht.

"Ohne Dunkelfeldforschung wissen wir nicht, ob zu stark oder zu wenig intensiv auf die Epidemie reagiert wurde"

BSZ Als aussagekräftigere Zahlengrundlage empfehlen Sie die Todesrate in Relation zur Gesamtbevölkerung eines Landes. Und, noch besser, die „schwere Erkrankung“, genauer gesagt den „aufgrund einer Covid-19-Infektion erforderlichen Krankenhausaufenthalt“ – warum?
Müller Solange eine repräsentative Studie nicht vorliegt, halte ich – wie in der Kriminologie – einen Ländervergleich aufgrund harter Fakten für sinnvoller als den Vergleich der Infektionszahlen. Denn sonst vergleichen wir ja nur die unterschiedlichen Testpraktiken, nicht aber, wie behauptet, Infektionszahlen. Die Anzahl der an Covid-19 Gestorbenen pro Bevölkerungseinheit scheint mir jedenfalls eine nicht so unsichere Datenbasis wie die Anzahl der positiv Getesteten. Allerdings wäre es noch besser, die erforderlichen Krankenhausaufenthalte zu zählen, denn diesen geht regelmäßig eine Diagnose voraus, während bei Todesfällen immer noch ein Dunkelfeld oder, bei mehreren Todesursachen, eine Zuschreibungsunsicherheit besteht, die in verschiedenen Regionen/Staaten unterschiedlich bewertet wird.

BSZ Kann man über die Statistik hinaus auch darin Analogien zwischen Kriminologie und Epidemiologie sehen, dass es in beiden Fällen darum geht, wie rational oder wie panisch man mit einer Bedrohung umgeht?
Müller Nur ganz eingeschränkt würde ich hier zustimmen. Es gibt ja Deliktsbereiche, die allein dadurch, dass sie größere mediale Aufmerksamkeit bekommen, stärker kontrolliert werden und dann wiederum mit höheren Werten in die Statistik eingehen. So kommt es dann zu einem Zirkelschluss in der öffentlichen Wahrnehmung, obwohl die tatsächliche Häufigkeit des Delikts möglicherweise unverändert geblieben ist. So wird zum Beispiel in einem der sichersten Länder der Welt von vielen Menschen ein stetiger Anstieg der Gewaltdelinquenz wahrgenommen, der nach allem, was wir wissen, gar nicht existiert. Aber im Fall Corona, in dem wir ja nicht über jahrelange Erfahrungen verfügen, können wir ohne Dunkelfeldforschung gar nicht sagen, ob zu stark oder zu wenig intensiv auf die Epidemie reagiert wurde und ob unsere Furcht berechtigt oder unberechtigt ist.

BSZ Wenn man alle Einwände gegen die täglichen Infektionskurven berücksichtigt – wie gut oder wie schlecht steht Bayern Ihrer Meinung nach derzeit in der Pandemie da? Oder muss man ehrlicherweise sagen: Man weiß es nicht?
Müller Was man wohl sagen kann: Bisher gehört Deutschland, und damit auch Bayern, zu den westlichen Industrienationen, die ziemlich gut mit der Krise umgegangen sind; die bisherigen Todeszahlen sind vergleichsweise gering und das Gesundheitssystem ist, abgesehen vom Mangel an Schutzkleidung, an keiner Stelle überlastet gewesen. Ehrlicherweise muss man aber sagen, man weiß ohne repräsentative Studien gar nicht genau, ob es die getroffenen Maßnahmen waren oder einfach Glück. Und leider wissen wir auch nicht, ob nach Lockerungen der Maßnahmen die Epidemie zurückkehrt.

BSZ In Bayern hat es Festnahmen aufgrund angeblicher Verstöße gegen die Ausgangssperre gegeben. Die entsprechenden Verfügungen wurden dann dahingehend gelockert, dass es erlaubt ist, auf einer Parkbank zu sitzen und ein Buch zu lesen. Was sagt der Strafrechtler dazu?
Müller Politiker müssen angesichts einer solchen Gefahr auch ohne vollständige Information schnell reagieren und sich dann dem Vorwurf aussetzen, teilweise auch überzureagieren. Die Vorschriften wurden mit heißer Nadel gestrickt, und es ergaben sich dann Absurditäten, also dass Verhaltensweisen verboten waren, die mit der Ausbreitung der Epidemie nichts zu tun haben. Dass es allgemein plötzlich strafbar sein soll, ohne triftigen Grund seine Wohnung zu verlassen, bringt praktisch eine im Strafrecht sonst unerhörte Beweislastumkehr mit sich. Da bin ich skeptisch.
(Interview: Florian Sendtner)

Kommentare (1)

  1. TQM,BPR,... am 07.05.2020
    A) Im Ländervergleich und je nach Verfügbarkeit von Beatmungsgeräten vermute ich sehr unterschiedliche Praktiken, um Erforderlichkeit eines Krankenhausaufenthalts zu diagnostizieren bei eigentlich ähnlichem Krankheitsbild. Dann messen wir eher Unterschiede des Vertrauens in Kliniken und deren Ausstattung als die Zahl gleich kranker Menschen. Vielleicht ist die Erforderlichkeit eines Beatmungsgeräts oder von Intensivmedizin (ICU) sinnvoller, um eine vergleichbare Covid-19-Gruppe abzugrenzen.

    B) Der Indikator Tod mit Covid-19-Diagnose hätte den zusätzlichen Vorteil einer in deutschen Flächenländern weit aktuelleren Meldung.
    Eine neue Studie belegt die Relevanz der Datenaktualität:“Focusing on the daily number of reported cases hampers our ability to understand current dynamics of an epidemic outbreak. This is especially problematic when one wants to assess the effects of political and social interventions. Knowledge of the actual number of daily infections is highly relevant for the current COVID–19 pandemic, where far-reaching political action was taken in order to contain the epidemic outbreak ...“aus „Nowcasting the COVID-19 Pandemic in Bavaria“ Felix Günther et.al.April 16, 2020 Introduction

    C) Die Studie belegt das permanente Fehlen aktueller Zahlen: (Chapter 4.1) „medium delay between disease onset and reporting was 7 days (… 75%-quantile: 11), Table 1 shows observed delay times over the observation period and reveals a considerable increase in the delay distribution over time“
    Die Studie bastelt einen statistischen Notbehelf, um Folgen dieser extremen Verzüge zu mildern. Für wirksames Bemühen um Abbau der langen Verzögerungen sprechen in der Studie weder Ergebnisse noch Maßnahmen.

    D) Auf LGL-Seiten sind fachlich übliche Ergebnisse oder Aufträge zur Meldeprozessanalyse wohl nirgends erwähnt (TQM, BPR, ...). Die extremen Verzüge (11 Tage Verzug bei 25% der Krankheitsfälle) werden durch das LGL vernebelt und beschönigt, so im Kapitel „Tabellarische Darstellung der Fälle nach Meldedatum“. Die Meldung eines COVID-19-positiven Laborbefundes erfolge „nicht immer am gleichen Tag, d.h. es kann teilweise zu einer gewissen Verzögerung kommen.“ Diese Täuschung verfestigt das LGL im Folgesatz: „Dass einige Fälle mit etwas Verzögerung im Gesundheitsamt elektronisch erfasst werden, ...“ Das kann verstanden werden, als ginge es um 50 Minuten, vielleicht um 100 Minuten, … statt in Wahrheit 11 Tage. Als ginge es um vielleicht 3% der Fälle statt in Wahrheit 25%, um kurze Ausnahmen statt Permanenz.

    E) Nicht einmal die gesetzl. Frist wird laut obigen Studienzahlen annähernd eingehalten:„Die verarbeiteten Daten zu meldepflichtigen Krankheiten und Nachweisen von Krankheitserregern werden ... spätestens am folgenden Arbeitstag durch das nach Absatz 3 zuständige Gesundheitsamt der zuständigen Landesbehörde … übermittelt“ § 11 IfSG (1). Dagegen waren laut Studie erst am 5.folgenden Arbeitstag erst 25% der Krankmeldungen beim LGL („delay between disease onset and reporting was … 25%-quantile: 5 (days)...“ Kapitel 4.1)

    F) Die heute vorgesehene Gesetzesänderung ändert nichts an der extremen Kluft zwischen Gesetzesanspruch und -umsetzung. Könnte sie aber.
    Ist das rechtlich irrelevant, Herr Prof. Müller? Irrt die Studie in der Relevanz für die Politik, Medien und Gesellschaft, Herr Sendtner? Ämter, Journalisten und Politiker ziehen statt (unnötig) alter Daten immer wieder pseudo-aktuelle, erwiesen nicht valide Daten heran. Valide Kennzahlen sehe ich ab mittlerer Aktualität.
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