Depressionen, Panikattacken, Traumata: Psychische Probleme waren 2023 in Bayern der häufigste Grund für Krankschreibungen. Einer der Betroffenen ist Oliver Kreuth (Name geändert). Der 38-Jährige wachte oft mit dem Gefühl auf, eine Betonplatte auf sich liegen zu haben. „Obwohl ich im Kopf völlig fit war, konnte ich mich für mehrere Stunden einfach nicht bewegen“, erzählt der Münchner. Sein Hausarzt stellte ihm eine Überweisung zur Verhaltenstherapie aus. Doch damit begannen die Probleme erst richtig.
Den Termin für die sogenannte psychotherapeutische Sprechstunde bekam Kreuth noch recht schnell. Dabei wird überprüft, ob und falls ja, welche psychische Erkrankung vorliegt. Die Bescheinigung wird benötigt, um Sitzungen zu vereinbaren und diese bei der gesetzlichen Krankenkasse abzurechnen. Die für die Vermittlungen zuständige Hotline 116117 der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) fand allerdings über Wochen keine freie Praxis.
Laut bayerischem Gesundheitsministerium mussten Betroffene 2023 im Durchschnitt fast 14 Wochen warten, bis sie mit einer Therapie beginnen konnten. Nur medizinische Notfälle müssen sofort behandelt werden. „Die Lage ist seit Längerem angespannt“, räumt das Haus von Ministerin Judith Gerlach (CSU) ein. Zwar sei der Freistaat regel- oder zum Teil sogar überversorgt. „Aber die Versorgungssituation ist aufgrund des steigenden Bedarfs nicht zufriedenstellend.“ Hauptgründe seien die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg. Krankenkassen verweisen auf Überstunden durch den Personalmangel.
Verzweifelte Hilferufe
Beim Patientenbeauftragten der Staatsregierung, Thomas Zöller (Freie Wähler), treffen regelmäßig verzweifelte Hilferufe wegen der Therapieplatzsuche ein. Kinder und ältere Menschen müssen in Bayern fast vier Monate auf einen Termin warten. Besonders dramatisch ist die Situation in Oberfranken und in einigen oberpfälzischen Landkreisen: Dort seien für alle Betroffenen 4,5 Monate Wartezeit die Regel. Zöller fordert daher von den gesetzlichen Krankenversicherungen mehr Psychotherapeut*innen mit Kassenzulassung und einen Ausbau der digitalen Sprechstunden.
Das Bundesgesundheitsministerium betont, dass sich die Zahl der Psychotherapeut*innen seit 2011 auf 40.000 fast verdoppelt hat. Allerdings stieg die Zahl der Betroffenen im selben Zeitraum überdurchschnittlich auf 2,1 Millionen. Was viele nicht wissen: Die Servicehotline 116117 muss Versicherten innerhalb einer Woche einen Behandlungstermin vermitteln. „Gelingt ihr dies nicht, hat sie einen ambulanten Behandlungstermin in einem zugelassenen Krankenhaus anzubieten“, erklärt das Bundesgesundheitsministerium.
Nachdem Kreuth ungeduldig wurde, bekam er von der 116117 die Koordinationsstelle Psychotherapie in Nürnberg empfohlen. Dort können Psychotherapeut*innen freie Plätze melden. Doch schon ein Blick auf deren Bewertungen machte ihn stutzig. „Es wurde schnell klar, dass die nicht unbedingt zu den Koryphäen in ihrem Fach gehören“, erzählt Kreuth. Eine Therapeutin diagnostizierte ihm am Telefon ein Problem mit seiner Mutter, eine andere weigerte sich, ihn zu behandeln. Dem 38-Jährigen reichte es: Er entschied sich, die Therapie selbst zu bezahlen.
Systemversagen
Die gute Nachricht für Betroffene: Wenn sie trotz mindestens fünf Anfragen länger als sechs Wochen auf einen Termin warten müssen, ist von einem „Systemversagen“ die Rede, so der Patientenbeauftragte Zöller. „Das bedeutet, dass die Krankenkasse gesetzlich verpflichtet ist, entstandene Kosten einer Psychotherapie in diesen Ausnahmefällen auch bei nicht kassenzugelassenen Psychotherapeuten zu erstatten“. Dazu genügt ein formloses Schreiben an die Krankenkasse mit den bisher gesammelten Belegen.
Doch wie kann das Problem nicht nur gelindert, sondern auch behoben werden? Die Bundesregierung verweist auf das neue Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz, die Staatsregierung auf Förderprogramme. Im Rahmen der Landarztprämie hätten 270 Therapieplätze geschaffen werden können. Die Grünen im Landtag fordern, Familienberatungsstellen, Krisendienste, Nothilfehotlines und Beratungsangebote in Schulen auszubauen und Betroffene in Gruppen zu betreuen. Die SPD-Fraktion wünscht sich von der Staatsregierung unter anderem einen Ausbau der Master-Studienplätze. Die Landtags-AfD fordert unter anderem den „massiven Abbau der Bürokratie“, um Betroffenen rascher zu helfen.
Es ginge aber auch deutlich schneller und günstiger. Denn es mangelt nicht an Fachkräften – sie erhalten nur keinen offiziellen Sitz der gesetzlichen Krankenkassen, kritisiert der Verein Pro Psychotherapie in München. Wenn die Krankenkassen es mit der Verbesserung der Versorgung ernst meinten, würden sie entweder die Anzahl dieser Sitze, die bis zu 100.000 Euro an Ablöse kosten, erhöhen oder die gesetzlichen Kosten für Therapiestunden von Psychotherapeut*innen ohne Sitz übernehmen. „An diese Fleischtöpfe“, klagt ein Mitglied, das nicht zitiert werden möchte, „traut sich aber keiner ran.“
(David Lohmann)
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