Ein verträumter Siebenjähriger hofft noch immer darauf, seinen Geburtstag mit Freunden in Kiew nachzufeiern. Ein Elfjähriger sieht furchtbar traurig aus, als er erzählt, dass sein Vater in der Ukraine geblieben ist. „Regelrecht eingesackt“ sei der Junge, sagt Daniela Prawez. Immer montags leitet sie eine Willkommensgruppe mit acht ukrainischen Kindern an einer Grundschule im Münchner Osten. Drei Stunden bleiben die Kinder in ihrer Obhut, dann werden sie nach Alter in Regelklassen verteilt.
Die gebürtige Münchnerin studiert Grundschulpädagogik im sechsten Semester und hat bereits jede Menge Praxiserfahrung gesammelt. Nachhilfe, Hausaufgabenbetreuung, Mitarbeit bei „Schule für alle“ und dem „Projekt Brückenbauen“, in dem Schüler*innen im Sommer Stoff nachholten, der in der Pandemie verloren gegangen war. Die Liste ist lang.
Aber Erfahrung ist nicht alles. Sie spricht auch Russisch, weil sie aus einer russisch-ukrainischen Familie stammt. Wenn sie etwas erklärt, wird sie verstanden. Fragen die Kinder nach, versteht sie, was sie wissen wollen. Auch mit den geflüchteten Eltern kann sich Daniela Prawez problemlos unterhalten – ganz so, wie es sein sollte, aber natürlich nicht überall ist, in Zeiten von Krieg und Flucht.
21 000 aus der Ukraine geflüchtete Kinder sind in bayerischen Schulen angemeldet, ein Großteil von ihnen, so ein Sprecher des Kultusministeriums, ist in den rund 1000 Pädagogischen Willkommensgruppen untergebracht. Über 2700 Lehr- und Willkommenskräfte arbeiten hier, 900 davon sprechen Ukrainisch oder Russisch. Was im Umkehrschluss heißt: 1800 können sich mit den Kindern nur mühsam verständigen.
Erstaunlich, wie flexibel man in Bayern auf einmal sein kann
Wer immer geglaubt hat, Schule in Bayern sei vor allem unflexibel, blickt mit Staunen darauf, wie frei man gerade improvisiert. Willkommenskräfte sind derart gefragt, dass man auf Qualifikationen wenig Rücksicht nehmen kann. Und so existieren bayernweit Gruppen, in denen man richtig im Stoff vorankommt. Und andere, die gerade mal das Minimum leisten, was das Ministerium fordert: „Die Willkommensgruppen sollen eine geregelte Struktur mit festen Bezugspersonen bieten, Begegnungen ermöglichen und den Spracherwerb fördern“, heißt es.
„In einer Schule läuft es sehr gut, in einer anderen eher nebenher; in einer gibt es eine Willkommensgruppe, in einer anderen nicht“, so Simone Fleischmann vom Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband. Gelinge es nicht, eine Willkommensgruppe einzurichten, landeten die Kinder in Regelklassen. „Man nennt das Sprachbad“, sagt sie. An sich eine sinnvolle Sache, gerade bei jüngeren Kindern, denen es leichtfällt, neue Sprachen beim Hören zu lernen. Und Musikunterricht, Sport, Pausenhofspiele: Das kann ein bisschen Heimat geben.
Aber all das ist nicht Schule, sondern irgendwas davor. Oder vielmehr: dazwischen. Zwischen der Schulpflicht in der Ukraine und der Schulpflicht in Deutschland, die erst drei Monate nach Ankunft der Flüchtlinge einsetzt.
Spätestens zum neuen Schuljahr muss es gelingen, ukrainische Kinder nicht nur warmen Sprachbädern auszusetzen, sondern eine vernünftige Bildungschance zu präsentieren. Eine Herkulesaufgabe, schließlich trifft der Krieg auf ein bereits deutlich krisengebeuteltes Schulsystem. Die verschnarchte Digitalisierung, die Corona-Jahre, der Lehrkräftemangel: All das sind schwelende Wunden. Hinzu kommt die Dreigliedrigkeit des Schulsystems, die so gar nicht kompatibel ist mit den Bildungssystemen anderer Länder.
„Was machen wir mit einem 16-jährigen ukrainischen Mädchen, das digitalaffin ist und selbstständig lernen kann und ins Gymnasium gehen könnte, aber kein Deutsch kann?“ , fragt Simone Fleischmann. Eine Antwort gibt sie nicht.
Im Moment gehen viele Kinder, die morgens noch in einer Willkommensgruppe gespielt haben, am Nachmittag online und lernen mit Lehrkräften und Materialien aus der Ukraine. Zu Recht wünschen sich die Eltern, dass ihre Kinder trotz Krieg ihre Schulkarrieren voranbringen. Tatsächlich stecken einige geflüchtete Schüler und Schülerinnen sogar gerade mitten in ihren Prüfungen, wie Simone Fleischmann erzählt. Sie machen ihren Abschluss in der Ukraine, digital, trotz aller Hürden. Das Ziel ist schließlich, schnellstmöglich in eine freie Ukraine zurückzukehren.
Im Fokus der bayerischen Schulen dagegen wird auch im neuen Schuljahr die Sprachförderung stehen, wie ein Sprecher des Kultusministeriums erklärt.
Simone Fleischmanns Resümee ist bitter. „Ich traue mich zu sagen: Womöglich schaffen wir die Integration nicht.“ Daniela Prawez ist optimistischer: „Integration: Das geht bestimmt!“, sagt sie. In der Ukraine beginne man früh, Fremdsprachen zu lernen. Die Kinder seien willens zu lernen. „Wenn sie wirklich hierbleiben, schaffen sie das!“
Kommenden Montag geht es für sie weiter mit Unterrichten. Auf dem Programm: deutsche Verben.
(Monika Goetsch)
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