Cannabis kann nachweislich Schmerzen lindern. Doch viele Mediziner halten es immer noch für eine gefährliche Droge. Außerdem ist die Therapie aufwendig und kompliziert. Welche Ärzte in Bayern dennoch Cannabis verschreiben, wird aus Datenschutzgründen nicht veröffentlicht. Die Folge: Ärzte-Hopping. Betroffene sprechen von Schikane.
Markus Hauber (Name geändert) ist verzweifelt. Seit Jahren leidet er an Depressionen, Panikattacken, Schlafstörungen und Angstzuständen. Zwar verschrieb ihm seine Hausärztin alle möglichen Gegenmittel – aber nichts half. Bis er eines Tages durch Zufall Cannabis probierte. „Seitdem ich Gras rauche, brauche ich überhaupt keine Tabletten mehr“, schwärmt Hauber. Jetzt könne er wieder schlafen und habe keine Angst mehr, was seine Lebensqualität enorm erhöht habe. Das einzige Problem: Hauber wohnt in Bayern. „Nicht nur die Ärzte in Regensburg sind extrem konservativ“, klagt er. Alle weigerten sich, ihm Cannabis auf Rezept zu verschreiben. Jetzt überlegt er, in ein anderes Bundesland zu ziehen.
Grundsätzlich dürfen Haus- und Fachärzte in Bayern seit Inkrafttreten des Gesetzes „Cannabis als Medizin“ im März 2017 Cannabis verordnen. Laut einer neuen Umfrage unterstützen 84 Prozent der Bundesbürger den Konsum zu medizinischen Zwecken. Patienten mit einer schwerwiegenden Erkrankung wie Multipler Sklerose können so neue Therapiemöglichkeiten angeboten werden. Aber was genau als „schwerwiegend“ definiert wird, konkretisiert das Gesetz nicht. Es hängt also immer von der Interpretation des Arztes ab. Die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (KVB) berichtet immer wieder über Klagen von Patienten, die keine Ärzte finden, die ihnen Cannabis genehmigen oder verordnen.
Dabei ist es wissenschaftlich erwiesen, dass Cannabis bei der chronischen Schmerztherapie ein sinnvoller Therapiebestandteil sein kann. In einer vom Bundesgesundheitsministerium geförderten Cannabis-Studie des Klinikums der Universität München haben Wissenschaftler über 2000 deutsch- und englischsprachige Studien aus zehn Jahren ausgewertet. Das Ergebnis: Cannabis-Arzneimittel waren Placebos in der Schmerzreduktion teilweise um über 30 Prozent überlegen. Sie helfen bei der Behandlung von Multipler Sklerose, grünem Star oder Tourette. Und sie verringern die Appetitlosigkeit von Krebs- oder AIDS-Patienten und beugen Erbrechen sowie Übelkeit vor.
Trotz der vielen Klagen von Betroffenen sieht das bayerische Gesundheitsministerium bei der Versorgung mit medizinischem Cannabis in Bayern kein Problem. 2019 hätten knapp 2200 Ärzte in Bayern Verordnungen über cannabishaltige Arzneimittel ausgestellt – viermal mehr als zwei Jahre zuvor. „Und allein im ersten Quartal 2019 sind mehr Verordnungen als im gesamten Kalenderjahr 2017 in öffentlichen Apotheken eingelöst worden“, heißt es aus dem Haus von Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU). An welche Ärzte sich chronisch Kranke wenden können, dürfe aus Datenschutzgründen nicht veröffentlicht werden. Die Folge für viele Betroffene: Ärzte-Hopping.
Die meisten Patienten sind zwischen 50 und 69 Jahre
Bundesweit gingen 2019 allein bei der Barmer Krankenversicherung über 6000 Anträge für Cannabis auf Rezept ein. Dabei handelt es sich nicht um Jugendliche, die einfach nur legal kiffen wollen. 51 Prozent der Antragsteller waren zwischen 50 und 69 Jahre alt, nur 27 Prozent unter 30 Jahre. Laut Barmer sind zwei Drittel der Anträge bewilligt worden. Wie häufig Krankenkassen im Freistaat Anträge genehmigen, ist unklar. Diese Zahlen werden nach Angaben der Krankenkassenverbände in Bayern nicht erfasst. Hauptgrund für die Ablehnung: eine nicht ausreichend „schwerwiegende“ Erkrankung. Als weitere Gründe werden genannt: fehlende Erfolgsaussichten, fehlende Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung oder fehlende Mitwirkung des Versicherten.
Schikanen erleben Patienten nicht nur beim Arzt, sondern auch bei Polizeikontrollen. Zwar dürfen sie mit einem sogenannten Cannabis-Ausweis oder ärztlichen Attest auch unter Medikation Auto fahren – „wenn Vorsorge getroffen ist, dass er andere nicht gefährdet“, wie es in der Fahrerlaubnis-Verordnung heißt. Dennoch wurde Karl-Heinz Reuschl aus Bayern nach einer allgemeinen Verkehrskontrolle aufgefordert, ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorzulegen. Der Vollzug der Verordnung ist Ländersache. „Und das alles, obwohl der Polizeibeamte schriftlich bestätigt hat, dass bei mir keinerlei Ausfallerscheinungen festzustellen waren“, berichtet Reuschl. Rechtssicherheit sieht anders aus.
„Viele Ärzte in Deutschland haben noch nie Cannabis verschrieben und sind wenig motiviert, daran etwas zu ändern“, sagt Hanfverband-Geschäftsführer Georg Wurth. Sie hielten Cannabis ausschließlich für eine schädliche Droge. Selbst wenn Mediziner über das nötige Wissen verfügen, schrecke die aufwendige Vorbereitung und Begleitung einer Cannabis-Therapie viele ab – diese wird nicht vergütet und ist kompliziert. Es sind sogar schon Regressforderungen der Krankenkassen gegen Cannabis-Ärzte bekannt. So verwundert es nicht, wenn Mediziner lieber weiterhin die üblichen Pillen verschreiben. Wurth fordert eine bessere Ärztefortbildung, konkretere Vorgaben für die Cannabis-Verschreibung und speziell für Bayern ein Ende der „extrem repressiven Cannabis-Politik“.
Bernhard Seidenath, gesundheitspolitischer Sprecher der bayerischen Landtags-CSU, kann die Aufregung nicht verstehen. Er habe großes Vertrauen, dass Ärzte bei der Vergabe von Medikamenten weder zu großzügig noch zu restriktiv vorgingen. „Einen Rausch auf Rezept darf es auch weiterhin nicht geben“, betont er. Polizisten seien für Cannabis-Patienten im Straßenverkehr sensibilisiert und würden eine Cannabis-Verordnung selbstredend anerkennen. „Von Schikane lässt sich keinesfalls sprechen“, ist Seidenath überzeugt.
Die Grünen im Landtag freuen sich zwar, dass die Zahl der medizinischen Cannabis-Verordnungen gestiegen ist. Viele Ärzte seien aber nach wie vor grundsätzlich gegen Cannabis, glaubt auch deren Abgeordnete Christina Haubrich. „Wer Cannabis als Medizin braucht, muss es auch bekommen können“, fordert sie. Die AfD-Fraktion verlangt, Menschen nicht den Führerschein wegzunehmen, nur weil sie regelmäßig medizinisches Cannabis konsumieren. Schließlich würden, ist Andreas Winhart (AfD) überzeugt, „schmerzfreie Patienten deutlich orientierter und konzentrierter am Straßenverkehr teilnehmen“. (David Lohmann)
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