Bei oberflächlicher Betrachtung scheint die Welt in Ordnung: Rund 65 Prozent aller Kinder sind in einem Sportverein organisiert. „Empirische Befunde zeigen in den letzten zwei Jahrzehnten einen Anstieg des organisierten Sporttreibens“, sagt Susanne Tittlbach vom Bayreuther Zentrum für Sportwissenschaft. Dennoch bewegen sich Kinder insgesamt viel zu wenig. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat deshalb kürzlich eine halbstündige „Bewegungspflicht“ in Grundschulen gefordert.
Sportwissenschaftlerin Tittlbach findet das grundsätzlich gut. Grundschüler*innen sollen sich der Professorin zufolge mindestens eine Stunde täglich bewegen. Das allerdings schafft nur jedes vierte Kind. Mehr Bewegung in der Grundschule wird darum seit Langem empfohlen. Wobei es wesentlich auf die Qualität der Bewegungs-, Spiel- und Sportangebote ankommt: „Sie müssen professionell inszeniert sein“, so Tittlbach. Nur so erlebten Kinder Sport als positiv.
Insbesondere für Kinder, die außerhalb der Schule keine Berührungspunkte mit dem organisierten Sport haben, sei dies von zentraler Bedeutung. Ob ein Kind in einem Sportverein landet oder nicht, ist im Übrigen immer noch eine Frage der sozialen Herkunft.
Sehr negativ hat sich die Corona-Krise ausgewirkt. Gerade während des zweiten Lockdowns haben sich laut Tittlbach nur noch 16 Prozent aller Kinder und Jugendlichen mindestens eine Stunde am Tag bewegt. Viele junge Leute seien zu jener Zeit aus dem Sportverein abgemeldet worden.
Dass Sport eine soziale Komponente hat, bestätigt Horst Kern, Leiter der Grund- und Mittelschule in Großwallstadt im Landkreis Miltenberg. Vor allem Mädchen mit Migrationshintergrund sind nach seinen Erfahrungen eher selten im Vereinssport zu finden. Kommen Kinder neu an seine Schule, ist es eher unwahrscheinlich, dass sie sportlich sind.
Kinder können oft nicht mal mehr einen Purzelbaum
Lehrkräfte haben es mit Schüler*innen zu tun, die nicht mal mehr eine Rolle vorwärts, also einen Purzelbaum, zustande bringen. Dies liegt laut Horst Kern nicht zuletzt an den personell schwer gebeutelten Kitas. Nur selten werde dort regelmäßig Sport angeboten. Natürlich sind auch Eltern gefordert: „Doch gerade Flüchtlingseltern kann man keinen Vorwurf machen, die kämpfen mit tausend anderen Problemen.“
Der Sportunterricht in der Grundschule ist tatsächlich überschaubar. In der ersten Jahrgangsstufe sind zwei Stunden vorgesehen. In der zweiten, dritten und vierten Klasse wird drei Schulstunden pro Woche geturnt. Die Forderung nach 30 Minuten mehr Bewegung pro Tag sieht Horst Kern skeptisch: „Wie stellt man sich das denn organisatorisch vor, warum sagt man nicht gleich, eine Stunde.“ Die tägliche Stunde Sport in der Grundschule, so der Pädagoge, der seit fast 40 Jahren im Dienst ist, sei im Übrigen eine uralte Forderung des Lehrerverbands BLLV.
Lehrkräfte zu finden, die Sportunterricht auf hohem Niveau halten können, ist gar nicht so leicht. Es gibt inzwischen Schulen, die auch Erstklässlern drei Sportstunden anbieten, berichtet Daniela Bertl, die sich im Lehrerverband BLLV bayernweit um das Thema Sport kümmert. Diese Schulen sind zertifiziert und dürfen sich „Sport-Grundschule“ nennen. Sie selbst ist als Sportlerin sehr angetan von der Forderung nach einer halben Stunde täglicher Bewegung für Grundschüler. Im Schulsport, so Daniela Bertl, könnten sich Kinder vielfältig ausprobieren: „Sport erzieht von selbst, er entspannt, macht Spaß, lenkt ab, bringt neue Ideen und er verbindet.“
Für die angedachte halbe Stunde Bewegung dürfe jedoch kein anderer Unterricht wegfallen, warnt Bertl. Möglich wäre es nach ihrer Ansicht alternativ, Schulkindern eine „bewegte Pause“ anzubieten. Dazu bräuchte es zum Beispiel „Bewegungskisten“ oder Kletterangebote auf dem Pausenhof. Daniela Bertl verweist außerdem auf den „sportlichen Adventskalender“ des Bayerischen Landessportverbands, der demnächst erscheint. Er animiert täglich zu mindestens 10 Minuten Bewegung. Dadurch, dass der Adventskalender Elemente aus dem LehrplanPlus der Grundschule beinhaltet, sei es möglich, sich mit dem Unterrichtsstoff zu bewegen.
Laut Angela Berndt, die sich bei der Lehrergewerkschaft GEW in Bayern um Grund- und Mittelschulen kümmert, spüren Lehrkräfte sehr oft im Alltag, wie unsportlich Kinder sind: „Das merkt man nicht nur im Sportunterricht.“ Auch im normalen Unterricht, bei Wandertagen und in den Pausen falle immer wieder auf, dass Kinder heute weniger Ausdauer haben: „Auch Koordinationsübungen fallen ihnen viel schwerer.“
Mehr Bewegung in der Grundschule sei prinzipiell gut. „Es kann aber nicht die Lösung sein, dass alles einfach immer noch auf den Grundschullehrplan obendrauf gepackt wird“, warnt die GEWlerin. Man müsse entweder die Stundenzahl erhöhen oder andere Fächer kürzen.
Eigentlich bräuchte es ein ganz neues Konzept, das auch die Nachmittagsbetreuung miteinbezieht. Schließlich gingen viele Kinder heute in die Ganztagsschule. Ohne ein stimmiges Konzept ist es nicht möglich, so die Pädagogin, kurzfristig ein Bewegungsprogramm umzusetzen. Geschweige denn unter den gegebenen Bedingungen: „Die Fachkräfte sind im Moment gar nicht vorhanden.“ (Pat Christ)
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