Soll man anrufen oder nicht? Das fragen sich viele Menschen, weil sie nicht genau einschätzen können, ob das, was sie haben, wirklich ein Notfall ist. „Hat jemand Zweifel, soll er die 112 wählen“, sagt Marc Gistrichovsky von der Integrierten Leitstelle (ILS) in Nürnberg anlässlich des Europäischen Tages des Notrufs am 11. Februar.
Das Problem: Oft wird die 112 gewählt, ohne dass ein Notfall vorliegt. Weil der Kopf schmerzt, Sonntag ist und kein Arzt am Ort Dienst hat. Dann wählt man am besten die 116117. Also die Nummer vom kassenärztlichen Bereitschaftsdienst.
Doch weil nicht unterschieden wird, schnellen die Zahlen in allen Leitstellen nach oben. 2023 gingen in der Nürnberger Leitstelle knapp 518.000 Anrufe ein. Nur bei etwa der Hälfte handelte es sich um echte Notrufe. Aus der Statistik allerdings wird auch offensichtlich, dass viele Menschen tatsächlich rettungsdienstliche Hilfe brauchen. Mehr als 313.000 Mal wurde 2023 in Nürnberg der Rettungsdienst alarmiert. Die Zahl weicht von den Notrufen ab, weil auch Ärzte und Krankenhäuser bei der Leitstelle anrufen und hierüber den Rettungsdienst anfordern können.
Hilfe bei der Reanimation
Eine wichtige Funktion hat die Leitstelle seit einigen Jahren beim Worst Case, dem Herzstillstand. Hier helfen die Mitarbeitenden der Leitstelle, das Intervall bis zum Eintreffen des Rettungswagens zu überbrücken. Wie sie bei Notfällen Erste Hilfe leisten können, wissen viele Menschen nicht. Auch wenn sie irgendwann einmal, um den Führerschein zu bekommen, einen Erste-Hilfe-Kurs mitgemacht haben. Anrufer*innen, die sich melden, weil sie ihren Vater, die Mutter oder einen Nachbarn mit Herz-Kreislauf-Stillstand vorgefunden haben, erhalten über die Leitstelle am Telefon Hilfe bei der Reanimation.
Die Mitarbeitenden der Nürnberger Leitstelle fragen softwaregestützt ab, was konkret vorliegt, erläutert Gistrichovsky: „Sie arbeiten sich am PC durch einen festen Algorithmus.“ Die Nürnberger Leitstelle ist die erste in Bayern mit einer solchen standardisierten Notrufabfrage. Sie erprobt dieses System für alle anderen Leitstellen im Freistaat, die in naher Zukunft nachziehen wollen.
In den Finger geschnitten? Anruf beim Notruf
Auch in Würzburg schnellen die Notrufzahlen nach oben. Aktuell trudeln rund 1000 Telefonate am Tag bei der Leitstelle ein. 2014 waren es erst 600 Anrufe gewesen. 2023 gingen daraus fast 58.500 rettungsdienstliche Notfalleinsätze hervor. 2022 lag diese Zahl sogar noch höher: Fast 64.500 Mal wurde der Rettungsdienst über die Leitstelle alarmiert. Und nicht immer reagieren die Anrufer*innen freundlich, wenn man ihnen erklärt, dass man wegen eines Schnittes in den Finger nicht den Rettungsdienst alarmieren muss. Die Aggressivität nimmt zu.
Das beobachtet auch Christina Gold, Pressesprecherin der Malteser in Unterfranken: „Die Hemmschwelle, selbst die ‚Weißen Kräfte‘ anzugehen, verbal wie manchmal sogar körperlich, ist gesunken.“
Wie Leitstellen organisiert sind, ist in Nordrhein-Westfalen anders als in Hessen oder Bayern. Weder hinsichtlich der technischen Ausstattung, noch hinsichtlich der Ausbildung und Qualifikationen der Beschäftigten gibt es einheitliche Standards. Auch wird überall etwas anders alarmiert. Aus diesem Grund sind Vergleiche zwischen Bundesländern schwierig. Simon Braun von der Deutschen Feuerwehr-Gewerkschaft betont: „Dennoch lässt sich in manchen Regionen in der Betrachtung der letzten zehn Jahre ein Einsatzanstieg von 50 Prozent und mehr beobachten.“
Die 27 Leitstellen in Bayern wünschen sich eine bessere Vernetzung zwischen den ILS und den ärztlichen Bereitschaftsdiensten. Hier sei zwar schon einiges auf den Weg gebracht worden. „Doch das hat noch nicht zu der erhofften Erleichterung in den Leitstellen geführt“, so Simon Braun. Er verweist auf den Rettungsdienstbericht Bayern 2023: „Der spricht von einem Anstieg der Einsatzzahlen in der Notfallrettung von 41 Prozent im Zeitraum von 2013 bis 2022.“ Einen Grund für den enormen Zuwachs sieht Simon Braun in der teilweise zu „vorsichtigen“ softwareunterstützten Notrufabfrage.
Und die Menschen scheinen prinzipiell immer weniger auf die Idee zu kommen, dass sie selbst mit Hand anlegen könnten. Das beklagen Rettungsdienste. Und das beklagt die ebenfalls über die 112 herbeigerufene Feuerwehr. Harald Rehmann, Leiter der Berufsfeuerwehr Würzburg, zum Beispiel machte schon vor sechs Jahren anlässlich des Notruftags darauf aufmerksam, dass die Feuerwehr mitunter gerufen wird, weil ein Mülleimer qualmt. „Früher hat man einfach einen Eimer Wasser genommen und den Brand selbst gelöscht“, so der Branddirektor.
Weicht das gesundheitliche Befinden ein wenig vom Normalzustand ab, stellt sich oft sofort Panik ein.
Durch noch mehr und noch bessere IT in den Leitstellen wird versucht, unnötige Rettungsdiensteinsätze zu verhindern. Wie wichtig dies ist, davon weiß auch Max Bolsinger, der den Rettungsdienst des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK) in Fürstenfeldbruck leitet, zu berichten. Bagatellen wie eingerissene Fingernägel oder Rückenschmerzen „führen immer wieder zu Einsätzen“, klagt er. Auch im Raum Fürstenfeldbruck steigen deshalb die Einsatzzahlen. Einen Rekord erreichten sie 2022 mit fast 27.500 Einsätzen. 2023 allerdings sanken die Zahlen leicht.
Am 23. und 24. April geht es bei einem Symposium in Bremerhaven um die Zukunft der Leitstellen. Dabei wird auch über Auswirkungen von Reformideen der Regierungskommission zur Krankenhausversorgung auf die Leitstellen diskutiert. Im Gespräch ist eine völlig neue Struktur. Integrierte Leitstellen sollen künftig rund um die Uhr telemedizinische Beratung anbieten, falls eine persönliche Versorgung nicht notwendig ist. Selbst die Verordnung einer Notfallmedikation mit Botendienst ist angedacht. (Pat Christ)
Kommentare (1)