Nein, Joseph Ratzinger hat nichts gewusst. Das versichert der heute emeritierte Papst Benedikt in seinem 82 Seiten langen Schreiben an die Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl immer und immer wieder aufs Neue. Dass pädophile Priester während seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising in seinen Verantwortungsbereich versetzt wurden und dort erneut Kinder missbrauchten - er habe nichts davon gewusst, beteuert er.
Dann kommt eine Ergänzung. Selbst wenn er teilweise davon Kenntnis gehabt hätte - hier wird im Konjunktiv gesprochen - würde man Folgendes berücksichtigen müssen: Der Pfarrer, um den es in einem konkreten Fall gehe, sei als Exhibitionist aufgefallen, aber nicht als Missbrauchstäter im eigentlich Sinn. "Die Tathandlungen bestanden jeweils im Entblößen des eigenen Geschlechtsteils vor vorpubertären Mädchen und in der Vornahme von Masturbationsbewegungen, (...) auch im Zeigen pornographischen Materials. In keinem der Fälle kam es zu einer Berührung."
Auch sei zu berücksichtigen, dass sich der Pfarrer den Mädchen immer an "Orten außerhalb seines Wirkens als Priester und Religionslehrer" genähert habe. Denn das ist Benedikt wichtig: "Weder als Priester in der Pfarrseelsorge noch als Religionslehrer" habe sich der Priester "das Mindeste zuschulden kommen lassen".
Ohne dass es ihm bewusst zu sein scheint, belegt Benedikt mit diesen Passagen einmal mehr, was Gutachter nun schon so oft nach jahrelanger Recherche in katholischen Kirchenakten angeprangert haben: Beim Umgang mit Missbrauchsvorwürfen ging es den Verantwortlichen jahrzehntelang in erster Linie darum, den Ruf der Priester zu schützen.
Mittler zwischen Gott und den Menschen
Denn sie haben in der katholischen Kirche eine herausgehobene Stellung als Mittler zwischen Gott und den Menschen. Was der Kirche am meisten anzulasten sei, sei die "vollständige Nicht-Wahrnehmung der Opfer", sagt der Jurist Martin Pusch am Donnerstag bei der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens für das Erzbistum München und Freising.
In diesem Gutachten geht es auch um den inzwischen schon berüchtigten Fall von "Priester X", wie ihn die Gutachter nennen. Dieser Geistliche wurde nach Missbrauchsfällen im Bistum Essen nach Bayern versetzt und dort nachweislich wieder zum Täter. Er wurde dafür Ende der 1980er Jahre rechtskräftig verurteilt und danach - nicht mehr in Ratzingers Münchner Amtszeit - sogar noch zweimal versetzt, ohne die neuen Gemeinden über seine Vergangenheit zu informieren.
Ratzinger war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München. Ein entscheidendes Datum aus dieser Zeit ist der 15. Januar 1980. An diesem Tag wurde in einer Sitzung entschieden, dass der Priester nach Bayern übersiedeln durfte. Er habe davon nichts gewusst, hat Benedikt immer wieder betont - denn er sei bei dieser Sitzung gar nicht anwesend gewesen. Doch spätestens seit diesem Donnerstag gibt es an dieser Behauptung erhebliche Zweifel.
"Wenig glaubwürdig"
Denn der Gutachter Ulrich Wastl präsentiert bei der denkwürdigen Pressekonferenz eine Kopie des Sitzungsprotokolls - und demnach hat Ratzinger durchaus teilgenommen. Er berichtete demnach von Dingen, die nur er wissen konnte, nämlich von Details eines Gesprächs mit Papst Johannes Paul II. über den kritischen Theologen Hans Küng. Er halte Benedikts Angabe, er sei in dieser Sitzung nicht anwesend gewesen, für "wenig glaubwürdig", sagt Wastl.
"Das ist sein persönliches Waterloo", sagt der renommierte Kirchenrechtler Thomas Schüller der Deutschen Presse-Agentur. "Joseph Ratzinger hat die letzte Chance vertan, reinen Tisch zu machen. Er wird der Unwahrheit überführt und demaskiert sich damit selbst als aktiver Vertuscher. Er fügt der katholischen Kirche und dem Papstamt damit einen irreparablen Schaden zu." Der Sprecher der Opferinitiative "Eckiger Tisch", Matthias Katsch spricht von einer "historischen Erschütterung" der Kirche. "Dieses Lügengebäude, was zum Schutz von Kardinal Ratzinger, von Papst Benedikt, errichtet wurde hier in München, das ist heute krachend zusammengefallen." Jeder, der die Präsentation dieses Gutachtens miterlebt habe, müsse erkennen, dass dieses System an sein Ende gekommen sei.
Die Zahlen, die die Gutachter zutage gefördert haben, sind erschütternd: mindestens 497 Betroffene in den Jahren 1945 bis 2019, mindestens 235 mutmaßliche Täter, darunter 40 Kleriker, die nach Missbrauchsvorwürfen wieder in der Seelsorge eingesetzt wurden. Und doch ist das nur das "Hellfeld", wie die Gutachter betonen. Nur das, was in den Kirchenakten Spuren hinterlassen hat. Die Dunkelziffer muss um ein Vielfaches höher sein.
Opfer wurden ignoriert
Das Münchner Missbrauchsgutachten ist nicht das erste für ein katholisches Bistum in Deutschland und wird auch nicht das letzte sein. So wichtig die weitere Aufarbeitung ist, grundsätzlich neue Erkenntnisse sind nach Einschätzung der Münchner Gutachter kaum noch zu erwarten. Denn jedes Gutachten bestätigt immer das gleiche Schema: Die Opfer wurden ignoriert, die Täter geschützt, um die Kirche vor Imageschaden zu bewahren. Das "Ich hatte keine Kenntnis" von Papst Benedikt hatte etwa im Erzbistum Köln seine Entsprechung im "nichts geahnt" des mittlerweile gestorbenen Kardinals Joachim Meisner. "Es ist alles gesagt, aber noch nicht von jedem", beschreiben die Gutachter das mit Karl Valentin.
Was die Verantwortungsträger mit ihrer Abwiegelei erreicht haben, spiegelt sich möglicherweise in einer diese Woche veröffentlichten Forsa-Umfrage. Demnach gehört die katholische Kirche in der Bundesrepublik zu den Institutionen, die das geringste Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger genießen.
(dpa)
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