Die Freiheit der Wissenschaft ist im Grundgesetz verbrieft. Das berechtigt zur Rücksichtslosigkeit gegenüber Religion, Politik oder Weltanschauung. Dozierende sind bei Forschung und Lehre nur der Wahrheit verpflichtet. Doch in jüngster Zeit beklagen viele ein Klima der „Cancel Culture“, in dem abweichende Meinungen an den Rand gedrängt und moralisch sanktioniert würden. 2022 wurde etwa nach Protesten der Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht an der Berliner Humboldt-Universität abgesagt, die zum Thema Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht – Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt referieren wollte. Natürlich muss man nicht alle Ansichten teilen. Aber der wissenschaftliche Streit mit freier Rede und Gegenrede ist die Keimzelle jedes Erkenntnisprozesses.
Bedenklich wird es, wenn Wissenschaftler*innen wegen ihrer Äußerungen sanktioniert werden. Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot von der Universität Bonn zum Beispiel hatte die drakonische Corona-Politik der Bundesregierung kritisiert. Sie bemängelte, dass sich die politischen Maßnahmen von den wissenschaftlichen Erkenntnissen „entkoppelt“ hätten. Auch habe es eine „große Gleichförmigkeit in der Berichterstattung“ gegeben. Zudem sei zu wenig auf die Profiteure der Krise geschaut worden. Die Universität Bonn distanzierte sich umgehend von den Äußerungen und kündigte der Professorin, weil sie in einem Buch von 2016 plagiiert haben soll. Zufall? Guérot hat gegen ihre Entlassung geklagt.
Ähnlich ergeht es aktuell dem Münchner Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen. Der 55-Jährige hatte bereits zu Beginn der Pandemie den Massenmedien eine Mitschuld an den Lockdowns gegeben und sich für eine ausgewogenere Berichterstattung ausgesprochen. Seitdem steht er unter medialer Dauerbeobachtung, selbst in seinen Vorlesungen. Für Meyen ein Beispiel dafür, wie kritische Geister „delegitimiert“ werden. Das mediale Dauerfeuer zeigte Wirkung, als er sich für zwei Ausgaben als Herausgeber bei der Kleinzeitschrift Demokratischer Widerstand engagierte, die eine Alternative zur eher unkritischen Berichterstattung der etablierten Zeitungen sein will. Meyens Motivation: den Graswurzel-Journalismus zu unterstützen. Jetzt wurde ein Disziplinarverfahren gegen den Beamten eingeleitet.
Grund: Die hinter der Zeitung stehende „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“ wird seit 2022 vom Berliner Verfassungsschutz beobachtet. Sie verbreite „Verschwörungserzählungen und demokratiefeindliche Propaganda“. Tatsächlich finden sich in den Ausgaben teilweise unsägliche Aussagen zu Corona und der aktuellen Bundespolitik. Andererseits wird auch über Themen berichtet, die in Massenmedien keine Beachtung finden – beispielsweise zur jüngst beschlossenen Änderung des Infektionsschutzgesetzes mit einer Meldepflicht für RSV-Erkrankungen beziehungsweise einer möglichen Impfpflicht für Kinder.
Ein Verbot der Zeitung lehnen Medienrechtler nicht nur daher ab: „Die Selbstregulierung der Presse und die Abwehr staatlicher Kontrolle haben historisch gesehen gute Gründe“, sagt Tobias Gostomzyk von der Technischen Universität Dortmund der Süddeutschen Zeitung. Selbst wenn manche Meinungsäußerungen nur schwer zu ertragen seien, sei das nicht gleich ein Fall für die Justiz. Das sieht der Mainzer Jurist Matthias Cornils genauso. Auch wenn man die Thesen für unsinnig halte: „Staatlich dagegen vorgehen zu wollen, halte ich für keine gute Idee.“ In einer freiheitlichen Gesellschaft müsse es um die Kraft des besseren Arguments gehen, nicht um die Unterdrückung von als falsch oder irreführend erkannter Aussagen.
FDP rügt Vorverurteilung
Meyen schreibt auch nach seinem Rücktritt als Mitherausgeber für die Zeitung. Bayerns Wissenschaftsminister Markus Blume (CSU) hält das für untragbar. „Hochschulen sind kein privilegierter Raum, um extremistisches Gedankengut und verfassungsfeindliche Hetze zu verbreiten“, betont er auf Nachfrage der Staatszeitung. Die Freiheit von Forschung und Lehre sei untrennbar verbunden mit der Treue zur Verfassung und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. „Ich begrüße es daher, dass jetzt ein Disziplinarverfahren eingeleitet wird und die Vorwürfe von der Landesanwaltschaft aufgearbeitet werden.“
Eine Prüfung hält auch Ex-Wissenschaftsminister Wolfgang Heubisch (FDP) für richtig. Noch gelte aber wie in jedem Verfahren die Unschuldsvermutung. Dass sich sein Nachfolger schon vor dem Disziplinarverfahren so kritisch äußert, hält er für falsch. „Das war zu früh, ist nicht nachvollziehbar und hat auf jeden Fall ein Geschmäckle.“ Sollte Meyen schuldig gesprochen werden, sieht das Bayerische Disziplinargesetz verschiedene Sanktionen vor: vom Verweis über eine Geldbuße und Kürzung der Dienstbezüge bis zur Zurückstufung und Entfernung aus dem Beamtenverhältnis.
Wie lange das Disziplinarverfahren dauert, kann die Landesanwaltschaft Bayern nicht sagen. Gleiches gilt für die Anzahl der Verfahren aufgrund von Zweifeln an der Verfassungstreue gegen Hochschuldozierende in der Vergangenheit. Der Bayerische Journalistenverband möchte sich zu dem Thema gar nicht äußern. „Der Vorgang betrifft Herrn Meyens Arbeitsverhältnis mit dem bayerischen Staat, nicht seine Nebentätigkeit für eine Zeitung.“ Allerdings ist genau diese der Grund für das Disziplinarverfahren.
Meyen selber muss sich nach den Vorwürfen erst einmal sammeln. „Allein schon die Tatsache, dass der Bayerische Landesanwalt der Presse von meinem Verfahren berichtet, stellt einen groben Rechtsverstoß dar“, klagt er im Gespräch mit der BSZ. Personalangelegenheiten gingen die Öffentlichkeit nichts an. „Das angebliche öffentliche Interesse, mit dem sich die Journalisten der Leitmedien herausreden, haben sie selbst erzeugt.“ Er glaubt nach den vorverurteilenden Aussagen von Wissenschaftsminister Blume nicht mehr an ein faires Verfahren. „Wenn man sich die Berichterstattung über mich in den letzten Monaten anschaut, dann weiß jeder Richter, der auch nur daran denkt, mich vom Vorwurf eines Dienstvergehens freizusprechen, was ihn erwartet.“ (David Lohmann)
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