Politik

25.03.2021

Soll die Impfreihenfolge gelockert werden?

Gerd Landsberg vom Städte- und Gemeindebund fordert mehr Flexibilität bei der Impfreihenfolge - unter grundsätzlicher Beachtung der Priorisierungen. Die seien ohnehin schon aufgeweicht, moniert Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Fast die Hälfte der 80-Jährigen sei noch nicht geimpft - auch weil sich immer mehr Berufs- und Lobbygruppen durchsetzten

JA

Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds

Wenn es um die Frage geht, ob wir mit Blick auf die Impfreihenfolge mehr Flexibilität benötigen, wird vielfach verkürzt argumentiert, damit sei der priorisierte Schutz der besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen infrage gestellt. Das ist unzutreffend.

Die vom Ethikrat und der Ständigen Impfkommission vorgelegten Priorisierungen sind richtig und sollten auch nicht infrage gestellt werden. Menschen, die besonders gefährdet sind, schwer zu erkranken oder sogar zu versterben, müssen so schnell wie möglich geimpft werden. Allerdings müssen wir aufpassen, dass uns eine überbordende Impfbürokratie nicht dringend notwendige Geschwindigkeit kostet und Impfdosen ungenutzt in den Kühlschränken liegen oder sogar am Ende eines Tages weggeworfen werden müssen. Teilweise erleben wir in Kommunen, dass Impftermine nicht genutzt werden können, weil die vor Ort Verantwortlichen nicht berechtigt sind, kurzfristig beispielsweise die zweite Priorisierungsgruppe (Personen älter als 70 Jahre) einzubeziehen. Hier verlieren wir wertvolle Zeit im Kampf gegen die Pandemie.

Spätestens wenn die Hausärzte in einigen Tagen in die Impfkampagne miteinbezogen werden, müssen wir mehr Flexibilität und mehr Spielräume ermöglichen. Die Hausärzte kennen ihre Patienten, die teilweise gravierende Vorerkrankungen haben, sehr gut und können deshalb zielgerichtet und schnell handeln. Es muss dann niemand befürchten, dass dort falsche Prioritäten gesetzt werden und Personen aus den priorisierten Impfgruppen übergangen werden.

Je mehr Impfstoff zur Verfügung steht und je ausdifferenzierter die Kriterien in den folgenden Priorisierungsgruppen werden, umso größer wird die Gefahr, dass wir mehr Zeit für bürokratische Anforderungen aufwenden als für das Impfen selbst. Das dürfen wir uns in einer Pandemie nicht leisten, denn der Impfstoff gehört in die Arme und nicht in den Kühlschrank.


NEIN

Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz

Nicht nur der Ethikrat wollte mit einer festen Impfreihenfolge zu allererst alte, pflegebedürftige und schwerstkranke Menschen vor dem Virus schützen. Schließlich macht diese verletzliche Bevölkerungsgruppe 90 Prozent der Covid-19-Toten aus. Doch die Regierungsmehrheit im Bundestag hat ein Gesetz verhindert, mit dem allein das Parlament über die Impfpriorisierung entschieden hätte. So ist es möglich, dass ein Bundesminister und alle Länder fast kontinuierlich innerhalb der viel zu großen Priorisierungsgruppen herummodellieren.

Dass bis heute fast die Hälfte der über 80-Jährigen noch keine Impfung erhalten hat, macht das ethische Versagen deutlich. Stattdessen setzen sich immer mehr Berufs- und Lobbygruppen durch. Faktisch besteht jedoch für die meisten Beschäftigten kein erhöhtes Risiko für einen mittleren oder schweren Krankheitsverlauf. Denn wer infiziert ist, muss nicht unbedingt an Covid-19 erkranken. Auch ist nicht klar, ob ein Geimpfter die Weitergabe des Virus stoppen kann. Doch diese Fakten wischen Bund, Länder und Gemeinden immer noch beiseite und argumentieren, dass der Mindestabstand nicht gewahrt werden kann.

Selbst grobes Impfvordrängeln wird weder von Bundes- noch von Landesverordnungen sanktioniert. Damit kann die Bundesregierung ihr Versprechen nicht einlösen, alle über 80-Jährigen bis Ende März durchzuimpfen. Obwohl ihr Risiko für Leib und Leben 600 Mal höher ist als für 30-Jährige.

Auch werden die Rufe nach noch mehr Flexibilität und weniger Starrheit bei der Verteilung der Seren immer lauter. Die sinnvolle Einbindung der 50 000 Praxen könnte diese Ungleichbehandlung verschärfen. Deswegen dürfen die Hausärzte in den ersten Monaten allein den über 70-Jährigen und Schwerstkranken ein Impfangebot machen. Ebenso gilt es, immobile Pflegebedürftige und Schwerstkranke unverzüglich durch Impfbesuche durch niedergelassenen Mediziner zu versorgen.

Fotos: dpa/Sebastian Gollnow Deutsche Stiftung Patientenschutz

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