Politik

Eine Leiche im Wald – findet sich innerhalb eines Jahres kein Täter, wird der Fall zu einem Cold Case. (Foto: dpa)

16.11.2018

Tote haben keine Lobby

Fast 200 Morde sind in Bayern ungeklärt. Ermittler fordern Cold-Case-Einheiten – das Innenministerium weigert sich

Missbraucht und mit dem eigenen Slip erdrosselt: Michaela Eisch wurde gerade Mal acht Jahre alt. Noch immer erinnert in München ein Kruzifix an das vor mehr als drei Jahrzehnten getötete Mädchen. Der Mörder wurde bis heute nicht gefasst. Auch den Mörder von Maria Baumer kennt die Polizei bis heute nicht. Ein Pilzesammler fand 2013 die skelettierte Leiche der 26-Jährigen im Landkreis Regensburg.

Beide Fälle sind sogenannte Cold Cases. So nennt man Schwerstverbrechen, die innerhalb eines Jahres nicht aufgeklärt werden konnten. In Bayern gab es nach Angaben des Innenministeriums zwischen 1986 und 2017 insgesamt 4459 Morde und Mordversuche. In 189 Fällen konnte der Täter bislang nicht überführt werden. Vermisste, die Opfer eines Verbrechens sein könnten, werden in der Statistik nicht berücksichtigt.

Da Mord nicht verjährt, ist es die Pflicht der Ermittlungsbehörden, Altfälle immer wieder auf neue Ermittlungsansätze zu prüfen. Nur: Für diesen aufwendigen Job fehlt es in Bayern an Personal. Die Ermittler bearbeiten dort die Fälle im Nebenamt. Anders in Hamburg und Schleswig-Holstein: Dort kümmern sich eigene Spezialeinheiten ausschließlich um Altfälle. Hessen baut gerade eine zentrale Cold-Case-Unit auf, und Nordrhein-Westfalen intensiviert die Bemühungen auf diesem Gebiet.

„Altfälle von Gewaltdelikten lassen die Kollegen ungerne einfach ruhen. Aufgrund der aktuellen Fälle fehlt aber oft die Zeit“, sagt Peter Schall, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei. Auch der Erdinger Hauptkommissar Robert Krieger betont, dass Cold Cases nicht im Aktenschrank verstauben. „Es sind schließlich keine Hühnerdiebstähle, sondern Morde. Doch die Leute dafür müssen wir uns aus den Rippen schnitzen“, so der Landesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter.

In Bayern werden Altfälle nur im Nebenjob bearbeitet

Die bayerische Staatsregierung sieht jedoch keinen akuten Handlungsbedarf, 95 Prozent der Morde in besagten Zeitraum seien geklärt und die Bearbeitung ungeklärter Morde habe hohe Priorität. „Alle Präsidien der bayerischen Polizei nehmen eine wiederkehrende Altfallprüfung vor“, heißt es aus dem Innenministerium. Einen festgelegten Turnus gibt es dafür nicht.

Für die SPD ist das nicht hinnehmbar. „Dass ungeklärte Mordfälle immer wieder mal sporadisch durchforstet werden, wird den Nöten der Hinterbliebenen nicht gerecht und ist ein falscher Ansatz“, sagt Markus Rinderspacher, Vizepräsident des Landtags. Er fordert bei allen zehn Polizeipräsidien in Bayern Spezialeinheiten mit extra Personal. Rückenwind bekommt Rinderspacher dafür nicht nur vom Opferhilfeverein Weisser Ring, sondern auch von führenden Ermittlern wie Markus Schlemmer, Chef der Kriminalpolizei in Aschaffenburg. „Wir geben zwar unser Bestes. Aber es reicht nur für die Pflicht, nicht für die Kür“, sagt er. Dabei konnte er mit seinem Team erst kürzlich einen jahrzehntelang zurückliegenden Mordversuch aufklären. Die Verurteilung des Täters Ende Mai sorgte bundesweit für Schlagzeilen. Der heute 55-Jährige hatte im Januar 1988 stundenlang eine Frau vergewaltigt und danach auf sie eingestochen. Im Glauben, sie sei tot, verscharrte er die damals 22-Jährige im Wald. Doch Ursula S. schleppte sich nackt zu einer Straße und wurde gerettet. Es dauerte fast 30 Jahre, bis ihr Peiniger gefasst wurde. „Wir hatten eine DNA-Spur ans LKA geschickt, und es gab einen Treffer“, sagt Schlemmer. Ein Glücksfall.

Seither versucht er verstärkt einen Fokus auf die Cold Cases zu legen. Zwar würden Datenbanken abgeglichen und immer geschaut, ob Spuren auf Beweismitteln mit modernster Kriminaltechnik doch noch zu einem Täter führen. Aber das reiche nicht aus. Zu viel hänge vom einzelnen Ermittler, seinem Engagement, seiner Sicht auf den Fall, den er zum Teil über Jahrzehnte betreut, ab, so Schlemmer. „Gerade aber im Team können neue Ermittlungsansätze entwickelt werden.“

In der Hamburger Cold-Case-Unit arbeiten vier Mitglieder aus völlig unterschiedlichen Polizeibereichen. Der Vorteil: Sie haben einen neuen, unvoreingenommenen Blick auf den Fall, sagt Frank-Martin Heise, Leiter des Hamburger Landeskriminalamts. So finden sich manchmal Anhaltspunkte, die Generationen von Beamten übersehen haben. Eine Qualitätssicherung, die in Bayern völlig fehlt, genauso wie das Personal, um einen Fall auch ohne konkrete Hinweise nochmal komplett aufzurollen. „Beziehungen verändern sich. Manchmal arbeitet die Zeit für uns. Ein Mitwisser, der damals geschwiegen hat und jahrelang Schuld mit sich rumträgt, sagt sich vielleicht: Wenn mich nochmal einer fragt, rede ich“, erklärt Heise.

Dass der Täter gefasst wird, ist auch für Angehörige wichtig

Dazu kommt: Es wäre auch ein wichtiges Signal an die Angehörigen der Opfer. Psychische Traumatisierungen bei Partnern, Eltern, Kindern: Welche Auswirkungen ein Verbrechen auf eine Familie hat, weiß Wolfgang Sielaff. „Das Leben gerät in Sekundenbruchteilen aus den Fugen“, sagt der ehemalige Chef des Hamburger LKA. Seine Schwester wurde 28 Jahre vermisst. Die Polizei hatte die Ermittlungen 1993 eingestellt. Sielaff gab die Suche selbst im Ruhestand nicht auf. Vor einem Jahr fand er in einer Kfz-Grube die einbetonierten Knochen seiner Schwester und klärte den Mord auf. „In Sekundenschnelle stellten sich zwei Empfindungen ein: der Schock, weil nun zweifelsfrei klar war, dass meine Schwester einem Verbrechen zum Opfer gefallen war und die Erleichterung, sie gefunden zu haben“, erzählt Sielaff.

Als Vorstandsmitglied der Weisser Ring Stiftung setzt sich Sielaff für die bundesweite Einrichtung von Cold-Case-Einheiten und die bessere Einbindung der Angehörigen in die Ermittlungen ein. „Oft wird nur an das unmittelbare Opfer gedacht. Aber die Angehörigen, die Freunde leiden lebenslang unter der Tat, der Ungewissheit, den offenen Fragen.“ Sie bräuchten eine Lobby. Man könne ihnen doch nicht sagen: „Wir kümmern uns – wenn wir freie Kapazitäten haben.“

In Bayern hat jetzt eine Arbeitsgruppe der bayerischen Polizei zumindest die Einrichtung einer Dienststelle zur Beratung von Sonderkommissionen empfohlen. Sie könnte zumindest die Begleitung von Schulungen oder die Fortentwicklung von Methoden zur Fallpriorisierung im Bereich der Cold Cases betreuen. Die Umsetzung wird derzeit geprüft.

Kripo-Chef Schlemmer will so lange nicht warten. Er ist gerade dabei, in Aschaffenburg eine eigene Ermittlergruppe zusammenzustellen. Alle 14 Tage sollen sich dort Kriminalbeamte aus allen Bereichen zusammensetzen und Altfälle mit neuen Ideen angehen. So werde die Last auf alle Schultern verteilt, erklärt Schlemmer. Es sei nur ein Versuch, meint er. „Aber ich sehe keine andere Möglichkeit.“ (Ruth van Doornik)

Kommentare (1)

  1. Zitrone am 17.11.2018
    Das wäre doch ein lohnenswwrtes Ziel, auch hier Spitze in Deutschland zu werden. Auf geht's Herr Ministerpräsident.
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