Politik

18.03.2021

Übertritt an weiterführende Schulen: Ist die Freigabe des Elternwillens sinnvoll?

BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann will die Wahl der weiterführenden Schule vom Elternwillen abhängig machen. Der FW-Landtagsabgeordnete Tobias Gotthardt hält das nicht für sinnvoll

JA

Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV)

Dass der Notenschnitt in Deutsch, Mathe und HSU (Heimat- und Sachkunde) über die schulische Zukunft eines Viertklasskindes bestimmt, ist schon in „normalen“ Zeiten mehr als fragwürdig. Wir sprechen hier von Neun- und Zehnjährigen, die sich ausprobieren und mitten in ihrer Entwicklung sind. Die meisten anderen Bundesländer zeigen uns, dass es sehr gut ohne ein Übertrittszeugnis geht.

Doch in Zeiten von Corona auf Biegen und Brechen daran festzuhalten, ist schlichtweg absurd. Es kann nicht sein, dass auch in diesem Ausnahme-Schuljahr immer noch die Zahl hinter dem Komma bestimmt, welches Kind auf welche Schule gehen wird. Denn machen wir uns einmal klar, wie das funktionieren soll. Auch wenn die Anzahl der notenbestimmenden Proben immer weiter gesenkt und schließlich komplett freigegeben wurde – je weniger es sind, desto mehr zählt die einzelne, was den Druck auf die Kinder immens erhöht. Außerdem ist die Situation in der Corona-Krise für jedes Kind, jede Klasse und jede Schule völlig unterschiedlich. Wochenlanger Distanzunterricht, Quarantäne-Fehlzeiten, heterogene soziale und familiäre Verhältnisse vergrößern die schon bestehende Bildungsungerechtigkeit weiter. Gerechte, faire und vergleichbare Bewertungen gibt es deshalb nicht.

Statt Notenjagd für ein „Mini-Abitur“ brauchen die Kinder in dieser unsicheren und belastenden Zeit – Zeit zum Aufholen, Zeit für das soziale Miteinander, Zeit für etwas Normalität. Deshalb fordern wir die Freigabe des Elternwillens. Wann, wenn nicht jetzt, ist der Zeitpunkt, Eltern mit der professionellen Beratung durch uns Lehrerinnen und Lehrer entscheiden zu lassen, was das Beste für ihr Kind ist? Dass diese „heilige Kuh“ endlich geopfert und die Entscheidung über die weiterführende Schule in die Hände von professionellen Lehrkräften und verantwortungsvollen Eltern gelegt wird – dafür kämpft der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband BLLV schon seit Jahren.
 

NEIN

Tobias Gotthardt, jugendpolitischer Sprecher der Freien Wähler im Bayerischen Landtag

Vornweg: Ich bin nicht nur Politiker – ich bin selbst dreifacher Vater. Und ich will nicht alleine über den künftigen Schulweg meiner Kinder entscheiden. Selbst in Pandemie-Zeiten sind Lehrkräfte näher dran an der schulischen Leistung der Kinder. Gemeinsam entscheiden ist gut – und deshalb auch längst möglich.

Die volle Freigabe des Elternwillens dagegen ist für mich grundsätzlich nicht sinnvoll. Im Gegenteil: Es ist ein Abschieben wichtiger Verantwortung, eine Scheindebatte in akademischen Kreisen. Wie bitte sollen Eltern in bildungsferneren Schichten alleine über den Weg ihrer Kinder entscheiden? Ich bin überzeugt: Auch sie wollen es nicht alleine – und vertrauen der Kompetenz der Lehrkräfte. So wie ich.

Lehrkräfte kennen das Leistungsvermögen und die Lernbereitschaft der Kinder – aber auch das Profil der möglichen Schulen. Übertritt mit Leistungsvoraussetzung heißt: Jedes Kind bekommt die beste Förderung. Das ist die Stärke unseres differenzierten Schulsystems: sich einlassen auf 110 000 junge, starke Charaktere.

Wir bleiben deshalb beim bewährten Prinzip des kindgerechten Übertritts und der Schullaufbahnempfehlung – passen es aber, wo nötig, der pandemischen Situation an: weniger Proben, flexible Regelungen, Entlastung für die Kinder. Und: Kinder, die im Übertrittszeugnis keine Empfehlung für die gewünschte Schulart erhalten, können auf Antrag der Eltern unabhängig von den bisherigen Noten am Probeunterricht teilnehmen. So vermeiden wir spätere Misserfolge und Frustration. Eine valide Einschätzung wird möglich.

Uns Freien Wählern ist klar, dass der Übertritt nicht nur für Eltern, sondern auch für Kinder eine besondere Situation darstellt. Dank der hohen Durchlässigkeit des bayerischen Schulsystems stehen jedoch jeder Schülerin und jedem Schüler auch nach dem Übertritt noch alle Wege offen – das ist ein Schatz! Und genau darüber sollten wir reden.

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