Politik

Auch wegen des zunehmenden Antisemitismus demonstrierten Menschen im Februar auf der Münchner Theresienwiese. (Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbrand)

05.04.2024

Überwiegend rechts motivierte Gewalt

Die Zahl der antisemitischen Straftaten in Bayern war 2023 so hoch wie noch nie seit Beginn der Statistik, wie neue Zahlen des Innenministeriums zeigen

Glaubt man den Tätern, geschah die Schreckenstat aus einer Bierlaune heraus. Mehrere junge Männer hatten sich am 24. März 1994 bereits nachmittags sinnlos betrunken. Aus leeren Flaschen bauten sie Molotowcocktails. Spät in der Nacht fuhren die vier dann zur Lübecker Synagoge. Über einen unverschlossenen Seiteneingang gelangten sie gegen 2.15 Uhr in das Gebäude und schütteten Brandbeschleuniger auf leicht entzündliche Materialien, die in einem Windfang gelagert wurden. Dann warfen sie einen Molotowcocktail in den Vorraum, der lichterloh brannte. Weil ein Zeuge rasch die Feuerwehr alarmierte, blieben weite Teile des Gotteshauses sowie die Bewohner der oberen Stockwerke unversehrt.

Doch der immaterielle Schaden war enorm. Erstmals seit dem Ende der Nazidiktatur wurde in Deutschland wieder eine Synagoge in Deutschland in Brand gesteckt. Die Täter hatten nach Überzeugung des Gerichts aus rechtsextremen Motiven gehandelt. Die Tat machte international Schlagzeilen, und im Inland saßen manche jüdische Menschen plötzlich wieder auf gepackten Koffern.

Auch in den folgenden drei Jahrzehnten sollten die jüdische Gemeinden nicht zur Ruhe kommen. 2019 versuchte der bewaffnete Rechtsextremist Stephan B. in Halle an der Saale erfolglos in eine Synagoge einzudringen. Nachdem er an der Tür scheiterte, tötete er zwei Menschen und verletzte bei seiner Flucht zwei weitere. Zuletzt gab es im Zuge des Gaza-Konflikts eine Zunahme antisemitischer Straftaten im Freistaat.

Anstieg um gut zwei Drittel

Wie eine Anfrage der Staatszeitung beim bayerischen Innenministerium ergab, stieg die Zahl der antisemitischen Straftaten von 2022 bis 2023 um gut zwei Drittel von 358 auf 589. Vor allem seit dem Massaker der Terrorgruppe Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 und dem folgenden israelischen Angriff auf Gaza explodierte die Zahl. „Im Zeitraum 7. Oktober 2023 bis 31. Dezember 2023 wurden im Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Fällen Politisch Motivierter Kriminalität insgesamt 204 Delikte im Unterthemenfeld ,Antisemitisch‘ im Zusammenhang mit dem Israel-Palästina-Konflikt erfasst“, sagt eine Ministeriumssprecherin.

Bereits im Februar konstatierte der bayerische Antisemitismusbeauftragte Ludwig Spaenle (CSU): „Hier besteht großer Handlungsbedarf. Und zwar für die Bildungsarbeit und die damit mögliche Präventionsarbeit, aber auch für den wehrhaften Rechtsstaat – vor allem für die Strafverfolgung und die Justiz.“ Auch Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende der Landtags-Grünen, sagt in der BSZ: „Es darf nicht sein, dass Jüdinnen und Juden sich nicht mehr sicher fühlen.“ Der Freistaat müsse die Bildungsarbeit intensivieren.

Nachdem die Bundesrepublik vor allem in den 1990er-Jahren von einer antisemitischen Welle überzogen wurde, verbesserte sich die Situation bis Mitte des vergangenen Jahrzehnts.

Das Bundesinnenministerium weist judenfeindliche Delikte in der Politisch Motivierten Kriminalität (PMK) aus. Deren Zahl schwankte seit Beginn der Statistik 2001 bis zum Jahr 2017 bundesweit stets zwischen rund 1200 und gut 1800. Bis 2021 kletterte sie dann auf 3027 und lag auch im Folgejahr mit 2641 auf hohem Niveau. Laut PMK-Statistik waren bis 2020 über 90 Prozent der registrierten antisemitischen Straftaten rechts motiviert. 2022 waren es mit 2185 von 2641 rund 83 Prozent. Lediglich 67 Straftaten seien durch „eine ausländische Ideologie“, 38 durch „religiöse Ideologen“ und acht links motiviert gewesen – also nur ein Bruchteil.

Konservative kritisieren jedoch seit Jahren, die deutsche Polizeistatistik verschleiere islamistischen Antisemitismus. Denn antisemitische Straftaten seien, wenn sich aus den Tatumständen oder der Einstellung des Täters keine gegenteiligen Anhaltspunkte zur Motivation ergeben haben, bislang in der PMK-Statistik häufig als rechts motiviert erfasst worden. Mittlerweile hat die Politik auf die Kritik reagiert. Das zuständige Gremium der Innenministerkonferenz hat im Dezember 2023 die bisherige Regelung nach Angaben des Bundesinnenministeriums gestrichen.

Sonderregelung bis Ende 2023

Eine Sprecherin des von Nancy Faeser (SPD) geführten Hauses bestätigte allerdings, dass bis Ende 2023 für antisemitische Straftaten, die nicht als links, rechts, ausländisch oder religiös motiviert zuzuordnen waren, eine Sonderregelung gegolten habe. Diese wurden automatisch dem rechten Spektrum zugeordnet. „Diese Sonderregelung kam jedoch nur bei ungefähr 10 Prozent der gemeldeten antisemitischen Straftaten zur Anwendung, weil in der ganz weit überwiegenden Zahl der Fälle konkrete Anhaltspunkte vorlagen“, so die Sprecherin. Für das SPD-geführte Ministerium ist deshalb klar: „Der hohe Anteil im Phänomenbereich der PMK – rechts – ist also ganz weit überwiegend durch entsprechende polizeiliche Erkenntnisse im Hinblick auf eine ,rechte‘ Tatmotivation begründet .“

Klar ist: Seit 1. Januar 2024 werden antisemitische Delikte, wenn keine tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Zuordnung zu diesen Phänomenbereichen vorliegen, der Sprecherin zufolge generell unter „sonstige Zuordnung“ erfasst. Für 2023 gibt es noch keine abschließende bundesweite Statistik. Doch das Bundeskriminalamt geht davon aus, dass es allein von Anfang Oktober 2023 bis Mitte Januar dieses Jahres zu über 2200 antijüdisch motivierten Straftaten kam – fast so viele wie sonst in einem ganzen Jahr. Bereits vor dem Gaza-Krieg wurden Jüdinnen und Juden immer öfter tätlich angegriffen. Die Zahl der antisemitischen Gewalttaten erreichte 2022 mit 88 einen neuen Höchststand.

Mehrfach forderte der antisemitische Terror auch Todesopfer: 1980 wurden ein jüdischer Verleger und seine Lebensgefährtin in Erlangen erschossen, die Spur führte zu Rechtsterroristen. Und am 5. September 1972 drang die palästinensische Terrorgruppe „Schwarzer September“ während der Olympischen Spiele in München in die Mannschaftsquartiere ein, ermordete zwei israelische Sportler und nahm neun Menschen als Geiseln. Alle Geiseln wurden bei der Befreiungsaktion getötet. (Tobias Lill)
 

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