Die Geschichte von "Volt" beginnt an dem Morgen, an dem ein ganzer Kontinent ungläubig auf seine größte Insel schaut. Es ist der 24. Juni 2016. Die Briten haben entschieden: Wir wollen uns trennen. Während die meisten Europäer sich noch verwundert die Augen reiben und den Ausgang des Brexit-Referendums betrauern, fassen ein paar Freunde den Entschluss: In der Politik läuft etwas mächtig schief. Wir müssen es wohl selbst machen.
Wenige Monate später ist "Volt" geboren. Der harte Kern: ein Italiener, eine Französin und der deutsche Damian Boeselager. Bei der Europawahl Ende Mai will "Volt" als erste transnationale Partei ins Europaparlament einziehen. Das heißt: keine Zweckgemeinschaft aus ähnlich gesinnten, nationalen Parteien - wie sonst auf europäischer Ebene üblich -, sondern eine homogene, von Grund auf europäische Partei. "Ob Klimawandel, Migration oder Zukunft der Arbeit - die Probleme, die wir heute haben, sind Probleme, die ganz Europa betreffen", sagt Boeselager. Dass herkömmliche Parteien vor allem ihre nationalen Ziele verfolgten und in Europa nur nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner suchten, bremse die Politik.
Ein paar Monate vor der Wahl steht die Bewegung unter Hochspannung - und das nicht wegen ihres Namens. In einer Brüsseler Altbauwohnung sitzen rund ein Dutzend "Volt"-Mitglieder zusammen und beraten, was bis zur Europawahl noch alles passieren muss: Abstimmungen, Kandidaten, Flyer, ein Webvideo? Die To-Do-Liste ist lang, die Zeit kurz.
Viele der "Volter" arbeiten bei der EU
Wer kümmert sich um die rechtlichen Details? Wie organisieren wir die Ausbreitung im Land? Wie kommen wir an Spenden? Die Diskussion ist konstruktiv, Entscheidungen fallen zügig. Viele der "Volter" arbeiten bei der EU oder sind anderweitig politisch vernetzt. Sie kommen aus Belgien, Frankreich, Großbritannien, USA, alle sprechen fließend Englisch.
Was in Brüssel passiert, findet gleichzeitig an vielen anderen Orten Europas statt. Mittlerweile ist "Volt" in mindestens zehn Ländern als Partei eingetragen. Manche von ihnen kandidieren auch bei regionalen oder nationalen Wahlen. Um im EU-Parlament eine eigene Fraktion bilden zu können, muss die Partei aus mindestens sieben Ländern heraus insgesamt 25 Sitze erreichen. Es wäre eine Premiere.
Ob sich "Volt" nun in Brüssel, Berlin oder Rom trifft - alle verbindet die gleiche Vision. Man will die EU stärker und handlungsfähiger machen, durch digitale Gesetzgebungs-Plattformen dem Bürger mehr Mitreden ermöglichen, eine nachhaltige, grüne Wirtschaft stärken, die Bedingungen für Start-Ups verbessern. Und vieles mehr - das Programm auf der Internetseite umfasst knapp 200 Seiten.
Urs Pötzsch, am Centrum für Europäische Politik Experte für EU-Fragen, sieht durchaus Vorteile darin, Politik von Anfang an auf europäischer Ebene zu denken und auf dieser Basis national zu organisieren. "Aber am Ende muss es vom Wähler gutgeheißen werden", sagt der Jurist.
Politik ist auch mühsame Kleinarbeit
Bisher sind es vor allem junge, gut gebildete, international vernetzte Leute, die sich bei "Volt" einfinden. "Um Erfolg zu haben, muss eine Partei aber in der Breite der Bevölkerung Gehör finden", sagt Pötzsch. Boeselager macht sich darüber keine Sorgen. "Unsere Nachricht ist keine Nischen-Nachricht", meint er.
"Volt" ist nicht die einzige Bewegung ihrer Art. Auch das "Democracy in Europe Movement" will als transnationale Bewegung die Europäische Union reformieren. Von "Volt" unterscheidet sie sich allerdings darin, dass sie nationale Gruppen mit verschiedenen Namen und Zielen unter sich vereint. Auch das Bündnis "Pulse of Europe", das mit Demonstrationen in vielen europäischen Städten auf sich aufmerksam machte, versteht sich als grenzüberschreitende Bewegung.
Dass Politik nicht nur große Vision, sondern auch mühsame Kleinarbeit ist, haben die "Volter" schnell gemerkt. In Italien müssen Parteien zum Beispiel 150 000 Unterschriften sammeln, bevor sie sich überhaupt eintragen lassen dürfen. Viele Länder bedeuten auch viele Herausforderungen. "Wir müssen uns mit dem Chaos auseinandersetzen", sagt Boeselager.
Beim Treffen in Brüssel liegt zwischen Laptops, Handys und Nervennahrung ein Kalender mit dem Aufdruck: "We love the EU. So let's fix it!" - "Wir lieben die EU. Also lasst sie uns reparieren." Ein paar wenige Wochen bleiben noch bis zur Wahl.
(dpa)
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