Politik

Fachkräfte verzweifelt gesucht. Der oberfränkische Behälterglashersteller Wiegand-Glas suchte in Kroatien – mit Erfolg. (Foto: dpa/Soeren Stache)

30.08.2024

Was Fachkräfte wirklich wollen

Immer mehr Stellen können nicht besetzt werden – woran liegt das? Wir haben uns umgehört

In Deutschland gibt es kaum mehr ein Unternehmen, das nicht vom Fachkräftemangel betroffen ist. Der oberfränkische Behälterglashersteller Wiegand-Glas hat bereits 2018 beschlossen, nicht länger auf bessere Rahmenbedingungen der Politik zu warten, sondern das Problem selbst in die Hand zu nehmen. Dazu wurden unter anderem im kroatischen Radio Stellenanzeigen geschaltet. In Bayern stellte das Unternehmen Betriebswohnungen bereit, ein ehemaliger Deutschlehrer half bei Behördengängen. Das war zwar aufwendig, aber erfolgreich: Wiegand-Glas gewann so rund 30 neue Beschäftigte, von denen die Hälfte noch immer dort arbeitet.

Die Zahl der unbesetzten Ausbildungsstellen in Deutschland ist auf Rekordhoch. Laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg blieben 35 Prozent der Azubistellen unbesetzt – 2010 waren es 15 Prozent. Bundesweit fehlen Fachkräfte vor allem im Baugewerbe, in Bayern insbesondere in Forschung, Entwicklung und technologieorientierter Produktion.

Das Problem wird sich künftig noch verschärfen. Schätzungen gehen davon aus, dass im Jahr 2030 bundesweit zwischen zwei und fünf Millionen Fachkräfte fehlen, in Bayern schwankt die Zahl zwischen 200 000 und einer Million. Abhilfe schaffen könnten aus Sicht der Ampel-Bundesregierung: Fachkräfte aus dem Ausland. Doch die machen bisher trotz mehrerer Reformen oft einen großen Bogen um Deutschland. Insbesondere die FDP pocht daher wie in Österreich oder den Niederlanden darauf, für sie Steuererleichterungen zu schaffen, etwa eine reduzierte Einkommensteuer.

Die FDP-Idee stößt aber in der Wirtschaft und bei der CSU auf viel Kritik. Auch innerhalb der Ampel ist der Steuerrabatt umstritten. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) befürchtet, dieser führe zu „gesellschaftlichen Missverständnissen“, also Neiddebatten.

Bayerische Wirtschaftsverbände lehnen Anwerbeprämien ebenfalls ab. Die Industrie- und Handelskammer (IHK) für München und Oberbayern wünscht sich stattdessen neben einer Willkommenskultur und Sprachkursen vor allem eine Beschleunigung der Zuwanderungsverfahren. „Ein großes Problem sind teilweise jahrelange Visa-Wartezeiten schon vor der Einreise, weil viele deutsche Konsulate und Botschaften überlastet sind“, sagt eine Sprecherin.

Betriebskitas und -wohnungen würden helfen

Ähnlich bürokratisch seien die Berufsanerkennungsverfahren. Bayern versucht, diese Wartefristen zu verkürzen – im Bereich Pflege durch eine sogenannte Fast Lane. Daneben gibt es ein Pilotprojekt, das helfen soll, die Prüfung von Zeugnissen durch künstliche Intelligenz zu beschleunigen.

Die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft hat aufgrund des Fachkräftemangels neben der Akquise in Drittstaaten letztes Jahr unter anderem ein Kontaktbüro in Albanien eröffnet. Und sie hilft, Jugendliche ohne Schulabschluss, Langzeitarbeitslose, Frauen, Ältere und Behinderte zu Fachkräften auszubilden. Darüber hinaus werden zusammen mit den Jobcentern und Arbeitsagenturen in München und Nürnberg Geflüchtete bei der Integration in den Arbeitsmarkt unterstützt. Bundesweit haben 27 Prozent der Erwerbstätigen einen Migrationshintergrund. Der begleitende Spracherwerb sei eine zentrale Aufgabe. Zu unterscheiden ist in jedem Fall zwischen Migranten, die nach Deutschland kommen, weil sie dort als Fachkräfte gebraucht werden, und Geflüchteten ohne Qualifikation, die zunächst mal eine Ausbildung benötigen. Dass die Zuwanderung qualifizierter Migranten nötig ist, darüber herrscht in allen Parteien Konsens. 

Tatsache ist: Arbeitgeber nehmen nur selten eigenes Geld in die Hand, um Personal zu gewinnen – indem sie etwa Betriebswohnungen schaffen oder eine Unternehmenskita. Lieber setzen sie auf die für sie kostenlosen Angebote des Staates. Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung ergab, dass der Anteil betrieblich betreuter Kinder weniger als ein Prozent der insgesamt in Tageseinrichtungen betreuten Kinder ausmacht. „Ohne das eigene Zutun kann die Wirtschaft nicht erwarten, dass Fachkräfte auf dem Silbertablett serviert werden“, kritisiert der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Der DGB schlägt unter anderem vor, dass Firmen Umzugskosten übernehmen.

„Die Politik muss gute Rahmenbedingungen setzen“, sagt der Vorsitzende des Arbeits- und Sozialausschusses im Bundestag, Bernd Rützel (SPD), im Gespräch mit der Staatszeitung. Fachkräfte locken müssten die Unternehmen selber. „Jemand, der nach Deutschland kommen will, schaut genau hin, ob er hier willkommen ist, ob es eine Wohnung gibt, ob die Familie mitkommen kann und ob es die Möglichkeit gibt, sich hier niederzulassen.“ Dafür brauche es neben Kinderbetreuung mehr Unterstützung in der Schule, eine moderne Verwaltung, mehr bezahlbare Wohnungen, eine gute Gesundheitsversorgung und eine bessere Infrastruktur.

Ein weiteres Problem: Flüchtlinge, die Fachkräfte werden wollen, werden abgeschoben. So wie bei Yankuba J. und Sheku M. aus Bayern, die beide in einem Jahr die Ausbildung zum staatlich geprüften Pflegefachhelfer abschließen könnten. "Weder Ausländerbehörde noch Vertreter des Innenministeriums wollen die Abschiebung aussetzen und eine pragmatische Lösung finden", klagt der bayerische Flüchtlingsrat. Denn beiden bleibt nur, mit einer „freiwilligen“ Aus- und Wiedereinreise und dem entsprechenden Visum nach Deutschland zurückkehren, um hier als dringend benötigte Fachkräfte zu arbeiten. Das ist aber ein riskantes Unterfangen und mit immensem Aufwand und Kosten verbunden. 

Arbeitgeber sowie Gewerkschaften glauben, dass ein Erstarken der AfD noch mehr ausländische Arbeitskräfte abschreckt. Die AfD selbst findet das absurd. AfD-Bundessprecherin Alice Weidel sagt, der Staat müsse die Rahmenbedingungen für Beschäftigte verbessern. Indem etwa Steuersätze und Energiekosten gesenkt werden. Martin Böhm, stellvertretender Vorsitzender der AfD-Fraktion im Bayerischen Landtag, fordert, zumindest einen Teil der knapp drei Millionen jungen Menschen ohne Studien- und Berufsabschluss auszubilden und in Arbeit zu bringen, statt ins Ausland zu schielen.

Entschärfen könnte sich der Fachkräftemangel auch dadurch, dass Deutschlands Wirtschaftswachstum abnimmt. Dass also gar nicht mehr so viele Beschäftigte gebraucht werden, weil die Unternehmen entweder Stellen abbauen oder insolvent sind. Der Ökonom Enzo Weber vom IAB verweist darauf, dass sich Deutschland im Wirtschaftsabschwung befinde: „Es werden seitdem immer weniger Stellen neu gemeldet.“ Das sei wirtschaftlich problematisch, „aber es verringert auch die Knappheit“. (David Lohmann)

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