Politik

Kinder verstehen oft nicht, dass sie wirklich tot sind, wenn sie sich das Leben nehmen. (Foto: dpa/Robert Schlesinger)

30.08.2024

Wenn 14-Jährige nicht mehr leben wollen

Immer mehr Kinder und Jugendliche unternehmen Selbsttötungsversuche – woran das liegt und wie man gegensteuern kann

Das gibt’s nur in der Fiktion, in Videospielen beispielsweise: dass man zwar um die Ecke gebracht werden kann. Und es geht trotzdem weiter. Man hat vier Leben. Oder fünf. Das macht etwas mit Kindern, meint Jörg Schmidt von der in Bayreuth angesiedelten Bundesgeschäftsstelle des Vereins „Angehörige um Suizid“ (AGUS). „Umso jünger Kinder sind, umso weniger verstehen sie, dass sie wirklich tot sind, wenn sie sich das Leben nehmen“, sagt er. Zumindest zum Teil scheinen Kinder Suizid als reversible „Exitstrategie“ bei akuten Problemen anzusehen.

Die Jugendzeit gilt als die schönste Zeit im Leben. Doch viele junge Menschen empfinden das dieser Tage nicht so. Hunderte Kinder und Jugendliche versuchen alljährlich, sich das Leben zu nehmen. In den beiden Jahren direkt nach der Corona-Krise, also 2022 und 2023, haben sich in Bayern laut Polizeilicher Kriminalstatistik insgesamt acht Kinder unter 14 Jahren umgebracht. 81 versuchten, sich das Leben zu nehmen. Das ist im Zehnjahresvergleich eine hohe Summe. 2012 und 2013 gab es, zusammengenommen, „nur“ 39 Suizidversuche. Vier Kinder haben sich in diesen beiden Jahren erfolgreich umgebracht.

Ähnlich ist das Bild bei den Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren. 38 suizidierten sich 2022 und 2023. 415 hatten es versucht. In den beiden Jahren 2012 und 2013 gab es zwar auch 39 Suizide. Aber „nur“ 298 Versuche. Die Zahl der Selbsttötungsversuche stieg demnach innerhalb des Vergleichszeitraums um nahezu 40 Prozent.

Die Dunkelziffer ist hoch

Wobei die Dunkelziffer hoch ist. Viktor Kacic, Chefarzt der Aschaffenburger Kinder- und Jugendpsychiatrie, geht davon aus, dass man die Suizidversuchszahlen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik mindestens mal zehn nehmen kann: „Wenn nicht sogar mal 20.“

Gerade bei Kindern und Jugendlichen gibt es oft einen konkreten Auslöser. Jörg Schmidt erinnert sich an einen 18-Jährigen, der mit dem Auto vom Weg abgekommen war und das Auto beschädigt hatte. Ihn quälte der Gedanke an seine Schuld ganz schrecklich: „Die Situation war für ihn untragbar.“ So untragbar, dass er sich umbrachte.

Für Außenstehende ist das unerklärlich. Wie kann man nur derart unter Schock stehen. Wie kann man so etwas nur derart tragisch nehmen. Doch Jörg Schmidt erfährt regelmäßig von solchen auf den ersten Blick schwer nachvollziehbaren Geschichten.

Unvergessen bleibt ihm ein 14-Jähriger, der vom Schaffner beim Schwarzfahren im Zug erwischt wurde. Der Schaffner kam extrem drohend rüber. Er teilte dem Jungen mit, dass der Vorfall in dessen Polizeiakte kommen würde. Dass er dadurch niemals einen guten Beruf bekäme. Auch dieses Kind brachte sich um. Sicherlich, sagt Jörg Schmidt, nicht allein wegen dieses Vorfalls. Der war nur der Auslöser gewesen. Wer weiß, was das Kind sonst noch erlebt hatte. Wie sein Lebensgefühl war. Oft quält sich ein junger Mensch mit vielen Fragen und Zweifeln. Aber solche Auslöser, erfährt der AGUS-Mitarbeiter immer wieder, reichen bei Kindern für die impulsive Kurzschlusshandlung „Suizid“ aus.

Häufig klingelt bei AGUS das Telefon oder es läuft eine Mail ein: „Wir haben circa 900 Kontakte pro Jahr.“ Das sind 3,5 Kontakte im Schnitt pro Werktag rund um das Thema Suizid. Bei wie vielen Kontakten es sich um Kinder und Jugendliche handelt, kann Schmidt nicht sagen – aber, dass sie „deutlich“ zunehmen. Dies liege daran, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrien überlastet seien. Dass Suizidalität bei jungen Menschen zunimmt, hat für ihn eindeutig mit der Corona-Krise zu tun. „Tendenziell sieht es leider nicht gut aus, was die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen anbelangt“, so der Pädagoge. Für ihn wäre es wichtig, die Resilienz junger Leute zu stärken.

Teenager in akuten suizidalen Krisen werden sofort in die Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgenommen. Sind sie durch den Suizidversuch körperlich beeinträchtigt, landen sie zunächst in der Kinderklinik. In der Aschaffenburger Kinderklinik hat es Christian Wieg, Chefarzt der pädiatrischen Intensivmedizin, oft mit jungen Menschen zu tun, die sich vergiftet haben.

Auch laut dem Aschaffenburger Kinderarzt hatte die Corona-Zeit äußerst negative Auswirkungen auf junge Menschen: „Wir sehen eine massive Zunahme an Depressionen.“ Gerade bei Mädchen habe sich die Rate verdoppelt. Auf der Aschaffenburger Kinderintensivstation, schätzt er, gab es im vergangenen Jahr mindestens 30, wenn nicht gar 40 Fälle von Vergiftungen in suizidaler Absicht. Meist versuchten Mädchen auf diese Weise aus dem Leben zu scheiden. 2024 sei zwar wieder ein leichter Abwärtstrend festzustellen, was Depressivität bei jungen Menschen anbelangt. Doch so wie in der Zeit vor der Pandemie ist es längst noch nicht.

Die Corona-Maßnahmen selbst will der Aschaffenburger Mediziner nicht kritisieren. Tatsächlich zeigen die für jedermann im Internet abrufbaren Protokolle des Robert Koch-Instituts, dass die Politik wider besseres Wissen Maßnahmen angeordnet hatte, die Kindern und Jugendlichen massiv schadeten. Dies geschah den Protokollen zufolge trotz vorliegender Erkenntnisse, wonach Kinder und Jugendliche weder Treiber der Pandemie noch in besonderer Weise gefährdet waren.

„Schulen sind eher nicht die treibenden Quellen und Schulschließungen würden die Lage wohl noch eher verschärfen“, heißt es wörtlich im Protokoll vom 30. November 2020. Bereits am 26. Februar 2020 war bekannt: „Schulen, Kitas stehen nicht im Vordergrund, Kinder sind keine wichtigen Glieder in Transmissionsketten“. Am 3. August 2020 steht in den Protokollen zu lesen: „Jedoch muss der Meinung, dass Schulen und Kinder Superspreader sind, entgegengetreten werden.“

„Schulschließungen waren ein Desaster“, bestätigt der Aschaffenburger Jugendpsychiater Viktor Kacic. Kinder und Jugendliche wurden dabei um das gebracht, was für sie emotional so wichtig ist: einen Freundeskreis. Durch die Lockdowns hätten Vereinsamung und soziale Ängste unter jungen Menschen stark zugenommen.

Die Folgen der Pandemie

In Viktor Kacics Klinik ist Platz für 48 Patient*innen. Die einen werden stationär, die anderen teilstationär behandelt. 80 Prozent der Patientinnen und Patienten haben Erfahrungen mit Suizidversuchen. Das ist seit Jahren schon so. Der Mediziner fordert, mehr dafür zu tun, dass Kinder und Jugendliche nicht suizidal werden. Dies könne zum Beispiel mit dem von ihm mitentwickelte Programm „Talk to me“ für Schulen geschehen.

Bei diesem Programm werden Schüler*innen über psychische Gesundheit aufgeklärt, darüber, wie man sinnvoll mit Krisen umgehen kann und woran sich erkennen lässt, dass sich ein anderer Mensch in einer Krise befindet. Wer mit irgendeinem Problem nicht alleine fertig wird, soll über Talk to me einen Gleichaltrigen finden, dem er sich anvertrauen kann. Für Kacic wäre zudem wichtig, den gesellschaftlichen Trend zur Selbstoptimierung zu durchbrechen. Die auf Instagram oder anderen Social-Media-Plattformen präsentierten Megastars, sagen auch andere Jugendforscher, setzen junge Leute massiv unter Druck. Jugendlichen, so Kacic, müsse vermittelt werden, dass jeder Mensch Stärken und Schwächen hat.

Zentral sei auch, dass Erwachsene die emotionale Bindung zu ihren Kindern stärken. Es reiche nicht, wenn Papa am Abend nach Hause kommt und Mama fragt, wie der Tag der Kinder verlief. Jugendliche müssten erleben, dass sie jederzeit direkten emotionalen Zugang zu ihren Eltern haben. Viele erleben dies nicht. (Pat Christ)
 

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Benachteiligt die Verkehrsplanung heute vielerorts das Auto?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.