Politik

Ein verwüstetes Schuhgeschäft in der Münchner Innenstadt. Am Abend des 9. Novembers zerstörte und plünderte auch in der Landeshauptstadt ein brauner Mob Wohnungen, Synagogen und Geschäfte. (Foto: Stadtarchiv München)

09.11.2023

Wenn der Nachbar zum Feind wird

Am Abend des 9. Novembers zerstörte und plünderte ein brauner Mob Wohnungen, Synagogen und Geschäfte. Joachim Both wurde erschossen, rund 1000 Münchner Juden ins KZ verschleppt - Hans Schloß dort ermordet

Für Familie Both war es zunächst ein schöner Abend. Gemeinsam hatten das jüdische Ehepaar und ihr erwachsener Sohn am 9. November ein Theaterstück in den Münchner Kammerspiele angesehen. Doch als die drei gegen Mitternacht nach Hause in die Lindwurmstraße kamen, begann ein Albtraum. Zunächst sahen sie, dass Unbekannte in den Stunden zuvor die Scheiben ihres gleichnamigen Sendlinger Modegeschäfts eingeschlagen hatten. Während Sohn Max das Auto in die nahegelegene Bavaria-Garage brachte, wollte Vater Joachim Both umgehend in der im selben Haus gelegenen Familienwohnung nach dem Rechten sehen.

Doch noch am Hauseingang attackierten ihn mehrere SA-Männer. Ein Trupp von Hitlers Braundhemd-Schlägern war zuvor gewaltsam in die Wohnung eingedrungen, um zu plündern. Sie schlugen Joachim Both zusammen und zerrten ihn in die Wohnung. Dort erschoss ein SA-Scherge den 62-Jährigen kaltblütig aus nächster Nähe. Seine Frau Marjem wurde mit einem Faustschlag daran gehindert, mit in die Wohnung zu kommen. Der Sohn wollte helfen – doch man verschleppte ihn in ein Polizeirevier.

Feind im eigenen Hinterhof

Joachim Both hatte zuvor Ärger mit seinem Hausmeister gehabt. Der stramme NSDAP-Kader hatte angekündigt, sich zu rächen – die Reichspogromnacht bot ihm die Gelegenheit dazu.

Der erfolgreiche Geschäftsmann Joachim Both war nicht der einzige Jude, der in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 sein Leben verloren. Nicht nur in München zogen damals braune Mobs plündernd und brandschatzend durch die Straßen. Die NS-Führung duldete die bis dahin schlimmsten antisemitischen Ausschreitungen seit dem Mittelalter nicht nur - sie hatte diese angeordnet. Keine Jüdin und kein Jude sollte sicher sein. Vor allem SA und SS schlugen Juden zusammen oder verschleppten diese in Konzentrationslager – doch auch so mancher Nachbar wurde plötzlich zum Feind im eigenen Hinterhof.

An den Plünderungen jüdischen Eigentums nach den Übergriffen beteiligten sich auch Tausende Deutsche, die keine glühenden Nazis waren. Der US-amerikanische Historiker Alan Steinweis, hat intensiv zur lange Zeit als „Reichskristallnacht“ verharmlosten Pogromen geforscht. Der Geschichtsprofessor, der auch in München gelehrt hat, konstatierte bereits vor Jahren: „Auch wenn sich wohl nur eine Minderheit der Deutschen aktiv an dem Pogrom beteiligte, war diese Minderheit doch bedeutend größer als oftmals angenommen.“

Bei den antisemitischen Exzessen wurden über 1200 Synagogen beschädigt oder zerstört. Reichsweit zerstörte der Mob mehr als 7000 Geschäfte. Unmittelbar wurden während der Reichspogromnacht nach offizieller NS-Bilanz 91 Menschen ermordet. Die Gesamtzahl der Todesopfer dürfte jedoch weit größer sein. Schätzungen gehen von über 1000 Opfern aus.

Nach Dachau verschleppt

Von den mehr als 30.000 damals in Konzentrationslagern inhaftierten Juden starben nicht wenige durch die brutale Behandlung oder wurden hingerichtet. Auch Hans Schloß wurde nach Dachau verschleppt. Der 37-jährige Betreiber eines Metallwarengroßhandels und Student der Musik war einer von gut 1000 Münchnern, die man in das bei München gelegene KZ brachte. Der Häftling mit der Nummer 21.152 wurde gefoltert, die NS-Schergen verweigerten ihm das dringend nötige Insulin – er starb. Nach der Nachricht vom Tod ihres geliebten Sohns nahm sich seine Mutter Cornelia das Leben.

Aufgrund der massiven psychischen Belastung sowie der zunehmenden Diskriminierung nahm die Selbstmordrate nach den November-Pogromen unter der jüdischen Bevölkerung signifikant zu. Im Jahr 1938 bezifferten die NS-Behörden die Zahl der Suizide in München auf 33. Zum Vergleich: 1934 waren es nur zwei gewesen. Mehr als jeder zehnte Selbstmörder hatte im Jahr der Reichspogromnacht jüdische Abstammung.

„Wollten das jüdische Leben in München auslöschen“

An vielen Ecken der bayerischen Landeshauptstadt tobte am Abend des 9. Novembers und in der darauffolgenden Nacht der braune Mob. Randalierer drangen gewaltsam in jüdische Altenheime in der Kaulbachstraße und Mathildenstraße ein und plünderten diese. SA-Schergen zündeten die Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße an – ein erst einige Jahre zuvor erbautes jüdische Gotteshaus in der Reichenbachstraße wurde verwüstet. „Die Nationalsozialisten wollten das jüdische Leben auch in München auslöschen“, sagt Daniel Baumann, Leiter des Stadtarchivs. Viele Geschäfte wurden geplündert oder zerstört.

Es gab allerdings auch Deutsche, die sich dem der brauen Mörderbande entgegenstellten. So hatten durch den Lärm klirrender Glasscherben aufgeschreckte Anwohner die Randalierer vor dem Modegeschäft der Boths zunächst vertrieben. Und in Berlin verhinderte ein mutiger Polizist die Zerstörung der Synagoge in der Oranienburger Straße.

Als willkommener Anlass, die Pogrome in Gang zu setzen, diente der NS-Führung das Attentat auf Ernst vom Rath, einen deutschen Botschaftsmitarbeiter in Paris. Der 17-jährigen polnische Jude Herschel Grynszpan schoss am 7. November 1938 auf diesen. Herschels Eltern waren zuvor wie gut 17.000 weitere polnische Juden vom Deutschen Reich an die deutsch-polnische Grenze zwangsabgeschoben worden. Zwei Tage später erlag Rath in einer Klinik seinen Verletzungen.

Blutrote Hakenkreuzfahnen

Bereits am 7. und 8. November kam es in mehreren deutschen Städten zu massiven antijüdischen Übergriffen. Am 9. November versammelte sich die NSDAP-Führung in im Alten Rathaus in München, um dem gescheiterten Hitler-Putsch von 1923 zu gedenken. Blutrot leuchteten die Hakenkreuzfahnen in der „Hauptstadt der Bewegung“ an jenem Tag. Propagandaminister Joseph Goebbels gab den Parteistrukturen und insbesondere der SA das Signal, noch am selben Abend loszuschlagen.

Begleitet von einer entsprechenden Medienberichterstattung versuchte das Regime den angeordneten antisemitischen Terror als „spontanen Volkszorn“ darzustellen. Der von den Nazis als „Aktion gegen Juden“ deklarierte Terror war allerdings nicht längerfristig geplant oder vorbereitet gewesen. Das Regime wollte schlicht die Gunst der Stunde durch das Attentat nutzen.

Nicht nur die Boths verloren an jenem Abend einen geliebten Menschen – und in den folgenden Jahren sollten Millionen folgen. Der 9. November war der Beginn des größten Verbrechens der Menschheitsverbrechens: dem Holocaust. (Tobias Lill)

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