Reisende, meidet Bayern!“ Wie bitte? Was ist denn jetzt passiert? Aber das steht so da. In großen Buchstaben. Auf einem Plakat auf einer Litfaßsäule. Mitten am Odeonsplatz. Und es wirkt. Die Passanten bleiben stehen. Immerhin steht die Aufforderung in Gänsefüßchen, aha, ein Zitat. Trotzdem: „Reisende, meidet Bayern!“ Und dazu eine Fotoidylle: im Vordergrund ein Kruzifix, im Hintergrund bayerische Berge, das klassische Tourismus-Werbemotiv.
Immer wieder bleiben Leute verdutzt stehen, schauen, wollen weitergehen, schaffen es nicht, bleiben wie angewurzelt stehen, lesen: Kurt Tucholsky hat das gesagt, vor hundert Jahren: „Reisende, meidet Bayern!“ Tucholsky! Satire! Satire darf alles!
Ludwig Thoma, der Antisemit
Aber dann fällt der Blick auf ein anderes Plakat (die Litfaßsäule ist mit etwa dreißig Plakaten beklebt), und der Atem stockt einem erst recht: Da wird damit gedroht, es solle nur so ein Jude kommen, „zu uns“, nach Bayern – „den schlagen wir, daß er in keinen Sarg mehr hineinpaßt!“ Das hat Ludwig Thoma 1921 im Miesbacher Anzeiger geschrieben, er schaut einen mit Hut und Lodenjanker an, die lange Pfeife im Mundwinkel. Schlagartig wird einem klar: Das Tucholsky-Zitat ist keine Satire, das ist ernst gemeint. Denn es ist die Reaktion auf die antisemitischen Hasstiraden à la Ludwig Thoma.
Die Litfaßsäule, die seit 1. November den Odeonsplatz um hundert Jahre zurückkatapultiert, ist ein Gemeinschaftswerk des NS-Dokumentationszentrums mit Studenten der LMU. Es gibt sie in zwei identischen Ausführungen, eine vor dem ehemaligen Café Tambosi, und eine direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite, vor dem Innenministerium. Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) stellte die ungewöhnliche Plakataktion am vergangenen Montag zusammen mit Mirjam Zadoff vom NS-Dokuzentrum und dem bayerischen Antisemitismusbeauftragten Ludwig Spaenle (CSU) der Öffentlichkeit vor. Die weitverbreitete Meinung, der Antisemitismus habe in München zusammen mit der Terrorherrschaft der Nazis 1933 begonnen und 1945 mit ihr geendet, sei falsch, so der OB. Hetze gegen die jüdische Minderheit habe es lang vor 1933 gegeben, und 1945 sei beileibe kein Schlusspunkt gewesen, auch wenn man das angesichts des desaströsen Endes der Naziherrschaft meinen sollte. Es sei notwendig, so Reiter, darauf heute hinzuweisen, auch plakativ, auf der Straße.
Ist die Plakataktion am Odeonsplatz eine Reaktion auf den antisemitischen Terroranschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober mit zwei Toten? Nein. Mirjam Zadoff, die Direktorin des NS-Dokumentationszentrums, erklärt: „Wir wussten nicht, wie aktuell es sein würde, jetzt nach Halle.“ Wie so oft wurde eine historisch-künstlerische Aktion von der Realität eingeholt. Die Sache wurde auch viel gründlicher vorbereitet, nicht in drei Wochen, sondern in drei Monaten. Es waren Studenten der Abteilung für jüdische Geschichte und Kultur an der LMU, die sich zusammen mit Michael Brenner, ihrem Professor, ein Semester lang auf Spurensuche begaben; unterstützt wurden sie von Mitarbeitern des NS-Dokuzentrums.
„Wo alles begann“ – der Frage geht auch Michael Brenners vor einem halben Jahr erschienenes Buch Der lange Schatten der Revolution nach: 400 Seiten über „Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918-1923“ (Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, siehe BSZ vom 17.5.2019). Hitlers München? Das stammt von dem Wahlmünchner Thomas Mann und ist als weiteres Plakatzitat auf der Litfaßsäule zu sehen. Fünf Monate vor dem „Marsch auf die Feldherrnhalle“, genauer gesagt Hitlers erstem Griff nach der Macht, der am 9. November 1923 an der Feldherrnhalle von Polizeikugeln gestoppt wurde, war für Thomas Mann bereits klar: „München ist die Stadt Hitlers, des deutschen Fascistenführers, die Stadt des Hakenkreuzes.“
Für Münchenliebhaber, die ihre Stadt gern in einem angenehmen Licht sehen, ist diese Litfaßsäule eine Herausforderung. München leuchtet? Diese Plakate hier handeln von einer jahrelangen Sonnenfinsternis an der Isar, die für Thomas Mann und unzählige andere unfassbar war. „Mit Entsetzen“, schreibt Michael Brenner in seinem Buch, betrachtete Mann „die Verwandlung Münchens innerhalb weniger Jahre von einem Zentrum ‚heiterer Sinnlichkeit‘, von ‚Künstlertum‘ und ‚Lebensfreundlichkeit‘ zu einer Stadt, die als ‚Hort der Reaktion, als Sitz aller Verstocktheit und Widerspenstigkeit‘ verschrien war und die man nun eine ‚dumme, die eigentlich dumme Stadt nannte‘.“
Auf der Litfaßsäule springt einem das Gesicht dieser Dummheit in Form der berühmten Karikatur von Karl Arnold entgegen, die am 3.12.1923 auf dem Titel des Simplicissimus prangte: ein massiger Schädel vor Bierglas und Pfeife, Hakenkreuze statt Augen. "Der Münchner" im Dauerdelirium: "Mei Ruah möcht i hamm und a Revolution / A Ordnung muaß sei und a Judenpogrom." Zu den vielen unaufklärbaren München-Rätseln gehört neben Ludwig Thoma auch Karl Arnold, der sich zehn Jahre nach dieser Zeichnung von den Nazis kaufen ließ.
Eine Herausforderung für die Münchner
Auch die Karikatur des „Münchners“ von Karl Arnold wird (wie das Tucholsky-Zitat) gern als spaßige Verzerrung missverstanden. Dass es blutiger Ernst ist, wird auf der Litfaßsäule am Odeonsplatz durch die unnachgiebig eingeschobenen Plakate klar, auf denen schwarz auf weiß antisemitische Gewalttaten der Jahre 1920 bis 1923 aufgelistet sind – freundlich geduldet vom Münchner Polizeipräsidenten und vom bayerischen Ministerpräsidenten.'
Der Antisemitismusbeauftragte der bayerischen Staatsregierung stellt sich unmissverständlich hinter die Plakataktion. Spaenle, nebenbei auch Münchner CSU-Chef, findet es unverzichtbar, „den Menschen in unserer Stadt deutlich zu machen, was es heißt, wenn man den Anfängen nicht wehrt“. Vor allem „dieser Ansatz mit diesen Originalen mit der Wucht der Quellen“ hat es Spaenle angetan, noch dazu hier, „in der Mitte der Stadt“. Warum dann nur diese eine Litfaßsäule, und nur bis 11. November? Darauf antworten Reiter, Spaenle und Zadoff ausweichend. Man wolle erst mal sehen, wie die Plakataktion ankomme.
(Florian Sendtner)
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