Pflege bedeutet seit mindestens drei Jahrzehnten die Quadratur des Kreises: Mit immer weniger Personal und knapperen Mitteln müssen tendenziell immer mehr und immer kränkere Menschen versorgt werden. Aktuell ist diese Aufgabe noch unlösbarer geworden.
„Wir haben sehr verzweifelte Angehörige auf der Suche nach einem Pflegeplatz am Telefon“, sagt Sonja Schwab, Leiterin der Abteilung Soziale Dienste der unterfränkischen Caritas. Die Politik, fordern Pflegefachleute, muss endlich die Reißleine ziehen. „Es gibt Energie- und Autogipfel, aber keinen Pflegegipfel“, konstatiert Sonja Schwab. Der Personalmangel in allen Bereichen der stationären Pflege sei bei der unterfränkischen Caritas „sehr hoch“.
Die Warteliste auf Pflegeplätze ist entsprechend lang. Für die Einrichtungen sei die Situation „schwer aushaltbar“. Eine Pflegeplatzvermittlungsbörse gibt es nicht, weil die zusätzliche Bürokratie bedeuten würde.
500 leer stehende Betten
In der Pflegeszene kursiert das Gerücht, dass die personell desaströse Lage in der Stadt Würzburg für aktuell 500 leer stehende Pflegebetten sorgt. Würzburgs Pressesprecher Christian Weiß allerdings spricht von einem Leerstand von höchstens 250 Betten. Wobei er zugibt, dass die Stadt keinen Überblick hat: „Wir sind gerade dabei, die genaue Anzahl zu eruieren.“ Eine Pflegeplatzvermittlungsbörse hat auch die Stadt nicht. Die habe es vor einigen Jahren zwar mal gegeben. Doch die Pflege der Datenbank sei zu aufwendig gewesen.
Das bayerische Pflegeministerium will Anfang 2024 eine digitale „Börse für pflegerische Angebote“ starten. Die Plattform, deren Aufbau in den nächsten Jahren mit 291 000 Euro unterstützt werden soll, wird nach Auskunft des Pflegeministeriums ambulante Angebote, Pflegeplätze und Beratungsangebote vermitteln.
Auch in Würzburgs Nachbarlandkreis Main-Spessart hat die Pflegekrise eine neue Qualität erreicht. Die Situation sei „sehr angespannt“, berichtet Sebastian Puglisi, Geschäftsleiter der Caritas-Sozialstation St. Rochus in Lohr. Durch eine akute Erkrankung pflegebedürftig gewordene alte Menschen könnten nach der Klinikentlassung oft nicht mehr zeitnah in eine Kurzeitpflege oder in ein Heim vermittelt werden.
„Dies hören wir derzeit aus allen Regionen Bayerns“, sagt dazu Gudrun Reiß, Referentin für Ambulante Altenhilfe bei der bayerischen Diakonie. Notplätze für die Betroffenen seien „im System nicht vorgesehen“. Die Lohrer Sozialstation versucht, Angehörige zu schulen, damit sie die Wartezeit überbrücken können.
Sebastian Puglisi hofft, dass die Politik angesichts der verschärften Krise nun endlich tätig und es künftig anders wird. Zur raschen Lösung der Problematik fordert er die Wiedereinführung des Zivildienstes. Alternativ fände er eine sechs- bis neunmonatige Pflegepflichtzeit gut.
Claus Fussek, Pflegeexperte aus München, hatte die Pflegepolitik bundesweit mehr als 30 Jahre lang mit ungewöhnlicher Schärfe kritisiert. „Die untragbare Qualitäts- und Personalsituation in zahlreichen Pflegeheimen wird seit vielen Jahren in unzähligen Expertenanhörungen diskutiert“, prangerte er 2008 als Sachverständiger bei einer Anhörung im Bundestag an. „Wie lange müssen die pflegebedürftigen Menschen, die Pflegekräfte und die Angehörigen noch auf Verbesserungen warten?“
Doch seither ist die Personaldecke noch dünner geworden. Das bestätigt Eva-Maria Klingwarth, Leiterin des Zentrums für Sozialberatung des Uniklinikums Regensburg. Sie beobachtet eine schleichende Entwicklung seit mindestens zehn Jahren. Pflegebedürftige Patient*innen könnten inzwischen häufig nicht mehr direkt im Anschluss an die Akutbehandlung in eine Nachsorge vermittelt werden: „Dann bleiben sie stationär, bis wir mit den Angehörigen irgendwo eine Versorgungsmöglichkeit gefunden haben.“
96 Kilometer vom Wohnort entfernt
Ganz aktuell hatte es Eva-Maria Klingwarth mit einem 70-jährigen Patienten zu tun, der Mitte Oktober mit einer Gehirnblutung aufgenommen wurde: „Ab November wäre er entlassfähig gewesen.“ Durch die Gehirnblutung benötigt der Patient volle pflegerische Versorgung. Rund 180 Pflegeheime wurden für die Nachsorge angefragt. Nach 16-tägiger Suche fand sich endlich eine Einrichtung: „96 Kilometer vom Wohnort entfernt.“ Derlei kommt häufig vor: Pflegebedürftige werden weitab von ihrem Zuhause in einem Heim untergebracht, weil wohnortnah nichts zu finden ist.
Claus Fussek prangerte jahrzehntelang auch die seiner Meinung nach selbst verschuldete Machtlosigkeit der Pflegekräfte an. Tatsächlich sind Pflegekräfte kaum organisiert. Laut dem Kasseler Politologen Wolfgang Schroeder gehören die wenigsten einer Gewerkschaft an. Im kirchlichen Bereich gibt es immerhin Mitarbeitervertretungen als Pendant zum Betriebsrat.
Dass überhaupt keine Pflegekräfte die Missstände beim Namen nennen würden, stimmt letztlich nicht. So meldet sich die Vereinigung der Pflegenden in Bayern zu Wort. „Nach unseren Erkenntnissen spitzt sich die Lage vielerorts dramatisch zu“, sagt Pressesprecherin Anke Röver.
Neben dem Personalmangel kämpften die stationären Einrichtungen damit, dass der Gas- und Ölpreis steigt und Lebensmittel immer teurer werden. „Viele berichten davon, dass sie jeden Tag Geld mitbringen müssen, um den Betrieb noch aufrechterhalten zu können“, so Anke Röver. Den gestiegenen Kosten stünden kaum gestiegene Entgelte gegenüber: „Vielen Einrichtungen droht das Aus.“
Viele Versprechungen
Die Vereinigung der Pflegenden fordert, den Pflegeberuf endlich durch mehr Eigenständigkeit in der Berufsausübung aufzuwerten. „Wir sind weit entfernt von einer Pflegeplatzgarantie, wie sie Ministerpräsident Markus Söder 2018 vor der Wahl vollmundig versprochen hatte“, kritisiert die SPD-Landtagsabgeordnete Ruth Waldmann. Durch diese Ankündigung seien große Hoffnungen geweckt worden. Nun fühlten sich Pflegebedürftige und Angehörige im Stich gelassen.
Bis Ende 2010 habe man bayernweit 60 Pflegestützpunkte einrichten wollen, so die Pflegeexpertin weiter: „Diese Zahl ist bis heute nicht erreicht.“ Die Umsetzung der Springerpools für die Pflege lasse auf sich warten, bei der zügigen Anerkennung ausländischer Pflegekräfte hake es ebenfalls.
Beim Förderprogramm „PflegesoNah“, das den Ausbau der pflegerischen Versorgungsstruktur vorantreiben soll, könnten aus finanziellen Gründen längst nicht alle Anträge berücksichtigt werden. Laut Bayerns Pflegeministerin Judith Gerlach (CSU) fördert ihr Ministerium Springerkonzepte mit bis zu 7,5 Millionen Euro in mindestens 30 Pflegeeinrichtungen. Die Einreise und Anerkennung ausländischer Pflegekräfte sei beschleunigt worden.
Durch PflegesoNah sollen bis 2028 zusätzlich 8000 Pflegeplätze geschaffen werden. Für 2023 seien 41 Projekte mit rund 1900 Pflegeplätzen für eine Förderung vorgesehen. Ob es so kommt: ungewiss. (Pat Christ)
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