Der Brief lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Wollen Sie wirklich für die Ukraine Ihr Land opfern?“, schrieben kürzlich die Kreishandwerkerschaft Halle-Saalekreis und ihre Innungen an Olaf Scholz (SPD). Darin fordern sie den Bundeskanzler auf, „alle Sanktionen gegen Russland zu stoppen und Verhandlungen zur Beendigung des Krieges gegen die Ukraine aufzunehmen“. Sie machten sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder und Enkel, um den Fortbestand ihrer Betriebe und die Zukunft Deutschlands, so die Handwerker*innen weiter. Das Schreiben schließt mit den Worten: „Wir wissen, dass die breite Mehrheit nicht gewillt ist, für die Ukraine ihren schwer erarbeiteten Lebensstandard zu opfern.“
Von Olaf Scholz gab es darauf bisher keine Reaktion. Zu Wort meldete sich nur Eric Eigendorf, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Stadtrat von Halle. „Unfug“ sei dieses Schreiben“, schimpft der Genosse von der Basis und die Handwerker*innen würden damit „nur dem Ansehen unserer Stadt und unserer Region“ schaden. Ob nun die Handwerksinnungen oder die SPD-Stadtratsfraktion – mit 11,3 Prozent auf Platz 5 bei den letzten Kommunalwahlen – ein zutreffenderes Bild von der Stimmung im südlichen Sachsen-Anhalt wiedergeben, lässt sich nicht eruieren.
Womöglich handelt es sich aus Sicht der Ampel nur um renitente Ossis. Aus Bayern zumindest braucht der Kanzler aktuell noch keine derartigen Wut-Briefe fürchten. Zwar „belastet der enorme Preisanstieg für Energie und Kraftstoff auch die bayerischen Handwerksbetriebe“, sagt Franz Xaver Peteranderl, Präsident des Bayerischen Handwerkstags, der Staatszeitung. Die Stimmung sei „angespannt“, so Peteranderl. Er habe „Verständnis, wenn manche Betriebe wegen der Sorgen um die eigene betriebliche Existenz die Sanktionen gegen Russland anzweifeln“. Auch deshalb müsse die Politik „das Handwerk schnell und deutlich entlasten“.
Aber von der Fahne gehen Peter-anderl und die Seinen nicht: „Wenn Russlands aggressiver Kurs Erfolg haben sollte, wäre dies aber eine noch viel größere Gefahr für unseren hart erarbeiteten Wohlstand und unsere wirtschaftliche und gesellschaftliche Freiheit.“
Wobei: Russland hat ja bereits Erfolg. Zumindest verdient es aktuell ganz gut. Mit dem Export von Öl, Gas und Kohle an Deutschland und andere Länder kassiert der russische Staat weiter Milliardenbeträge. In den ersten sechs Monaten des Angriffskriegs gegen die Ukraine habe Russland mit den Ausfuhren fossiler Energieträger aufgrund der stark gestiegenen Preise Einnahmen in Höhe von 158 Milliarden Euro erwirtschaftet, schreibt die unabhängige, in Finnland ansässige Forschungsorganisation Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA) in einem Bericht. Das sei mehr, als Moskau der Krieg in der Ukraine kostet.
Momentan schaden die Sanktionen vor allem der Bundesrepublik, wie eine neue Studie des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsbildung in Nürnberg belegt. Selbst wenn die Sanktionen zeitnah beendet würden, werde die deutsche Wirtschaft die Folgen noch bis ins Jahr 2030 spüren. Mit einem Verlust an Wertschöpfung in Höhe von 260 Milliarden Euro – das sind rund 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von Bayern – sei zu rechnen, so die Nürnberger Forschenden. Hinzu käme eine wachsende Arbeitslosigkeit, im nächsten Jahr bereits 240 000 zusätzliche Personen.
In Österreich bröckelt derweil die Sanktionsfront. Zwar sind laut einer Umfrage der Zeitung Standard 46 Prozent der Menschen dafür, die Sanktionen fortzuführen – aber schon 40 Prozent dafür, diese aufzugeben. 42 Prozent sind inzwischen der Ansicht, dass die Sanktionen nichts bringen – außer Schaden für die eigene Bevölkerung und die heimische Wirtschaft. Innerhalb weniger Wochen hat sich das Stimmungsblatt in der Alpenrepublik deutlich gewendet.
Unterstützung des Embargos geht in ganz Europa zurück
In Deutschland haben verschiedene Gruppen in den kommenden Wochen zu Demos aufgerufen. Die Gewerkschaft Verdi droht mit Protesten, Linkspartei und AfD mobilisieren jeweils ihre Anhängerschaft für einen „heißen Herbst“. Die Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern sind alarmiert.
Noch heftiger äußert sich der Unmut in Tschechien. In Prag demonstrierten am vergangenen Wochenende rund 70 000 Menschen gegen steigende Energiepreise, die Inflation und die Unterstützung der Embargopolitik durch die tschechische Regierung. Victor Orban, Premierminister von Ungarn, will sie ohnehin nicht mittragen. Und Giorgia Meloni, Vorsitzende der Partei Fratelli d’Italia und laut Umfragen mutmaßlich bald neue Ministerpräsidentin von Italien, kündigte für den Fall ihres Wahlsiegs ebenfalls den Ausstieg an. Griechenland ist auch skeptisch. Es wird einsam um die Deutschen.
Erste zarte Absetzbewegungen gibt es aber auch hierzulande. Michael Kretschmer (CDU), der Ministerpräsident von Sachsen, regte an, den Konflikt in der Ukraine „einzufrieren“ – ohne das freilich zu präzisieren. Von SPD und Grünen wurde er dafür verbal angegangen, als stünde er auf der Gehaltsliste des Kreml, und aus seiner eigenen Partei sprang ihm zumindest niemand zur Seite.
Immerhin: Seitens der Bundesregierung tat Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) öffentlich kund, was sie von derartigen Unmutsbekundungen aus der Bevölkerung hält. Die Sanktionen und das Embargo werden fortgesetzt, so die Ressortchefin, „egal was meine Wähler in Deutschland sagen“. Und bereits im Februar verkündete die Ministerin, die Bundesrepublik sei „bereit, einen hohen wirtschaftlichen Preis zu zahlen“. Bleibt abzuwarten, ob die Mehrheit der Deutschen das ebenso sieht, wenn es für sie persönlich drastische Einbußen bedeutet. Oder im schlimmsten Fall die Existenz kostet. (André Paul)
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