Wenn Gisela Trosbach von Kette, Schuss, Loch und Gesicht in einem Zusammenhang spricht, und das dann auch noch in einem Gebäude der Universitätsmedizin gleich gegenüber der Anatomie in München, dann geht es aber nicht um einen Mord oder um Gerichtsmedizinisches – je-denfalls nicht was ihr Tun anbelangt. Zwar ist in der Tapisserie Deborahs (siehe dazu "Wirkungsvolle Ablenkung"), Führungsstärke, die vor ihr liegt, eine recht brutale Tötung thematisiert. Doch ob diese rechtens war, interessiert die Restauratorin nicht: Sie hat vielmehr – das erinnert allerdings durchaus etwas an den Spürsinn und die Gewissenhaftigkeit einer Pathologin – penibel all die Schuss- und Kettfäden des Wandteppichs im wahrsten Sinn des Wortes unter die Lupe genommen, hat jeden Quadratzentimeter des rund 14 Quadratmeter großen gewirkten Schmuckstücks auf Löcher, Risse und viele andere Schäden hin analysiert und den „Patienten“ geheilt. So gut es eben ging – ja, ein bisschen war es auch Schönheitschirurgie, die sie ihm zugute kommen ließ.
Die Analogie zur Medizin ist gar nicht so weit hergeholt: Zum einen war Gisela Trosbach einst Krankenschwester, bevor sie über die Schneiderei und mit einem Fachstudium an der TU München zur Expertin für Textilrestaurierung wurde. Zum anderen entdeckt man auf ihren Arbeitstischen manch medizinische Gerätschaft: aus der Zahnmedizin ebenso wie aus der Augenmedizin. Womit selbst in engsten Zahnzwischenräumen Zahnstein abgekratzt werden kann, lässt sich gut auch für das gleichermaßen Fingerspitzengefühl erforderliche Separieren und Trennen von hauchdünnen Seidenfäden einsetzen. „Und die Rundbogennadeln aus der Augenchirurgie nehme ich für die Spannstiche her.“ Natürlich liegt da nicht nur ein einziger Typ solcher Nadeln bereit: Je nach erforderlicher Stichlänge wählt Gisela Trosbach ein Exemplar mit passendem Kreisbogen. Der Vorteil solcher Nadeln: Der Wandteppich kann beim Nähen flach liegen bleiben. Der Nachteil: „Nach ein paar Stunden sind meine Fingerspitzen ganz wund.“
Aber das tut ihrer Begeisterung für die Tapisserie keinen Abbruch, selbst nach über einem Jahr „Gesundpflegen“ merkt man ihr keine Ermüdung an: „Das ist ein so wunderschönes Kunstwerk, so ausdrucksstark und subtil gewirkt“, sagt sie schwärmerisch. Es muss wie Liebe auf den ersten Blick gewesen sein: Die hohe Qualität habe sie schon gleich erkannt – „obwohl mich zunächst das blanke Grauen ergriffen hat, als ich all den Staub und Schmutz sah, der den Teppich bis zur Unkenntlichkeit verunstaltete. Als ich ihn berührte, war danach meine Hand schwarz.“ Nichts war mehr von der Leuchtkraft des fein nuancierten Farbenspiels zu sehen. All der Schmutz hatte das Gewebe obendrein regelrecht verfestigt.
Nicht saugten sondern inhalieren
Allerdings hat der Kniester (selbst Rauchschwaden hatten sich jahrelang auf dem Textil abgesetzt) auch die Fragilität des Gewebes zugedeckt. Die trat mit umso größerer Wucht zutage, nachdem Gisela Trosbach den losen Schmutz äußerst vorsichtig abgesaugt hatte: „Man kann nicht wie bei einem Wohnzimmerteppich mit voller Saugkraft arbeiten. Ich benutze feinere Düsen und Aufsätze mit Rosshaar, um den Staub aus der Tiefe hervorzuholen. Das ist besonders wichtig für eine spätere Nassreinigung, da es verhindert, dass die Fasern bei der Wäsche vergrauen.“
Als ihr altersgebrechlicher Patient nämlich so vor ihr lag, wusste sie sofort, dass auch noch eine Nassreinigung durch Spezialisten notwendig werden würde. Dazu vertraute man die Tapisserie der Königlichen Manufaktur de Wit im belgischen Mechelen an. „Es war hochinteressant zuzusehen, wie das eingespielte Team dort mit einem speziellen Aerosolverfahren solche empfindlichen großformatigen Textilien reinigt“, erinnert sich Gisela Trosbach. Dazu wird die Tapisserie von oben mit feinzerstäubter Waschlauge besprüht, die permanent nach unten wieder abgesaugt wird. Damit werden neue Schäden vermieden, zum Beispiel das Ausbluten von Farben und das Verfärben umliegender Partien.
Nach dem Reinigen erscheinen die 370 Jahre alten Farben wieder verblüffend kräftig. Ergänzungen und Reparaturen sind dagegen häufig verblichen. Sie stören besonders die feine Zeichnung und damit die Lesbarkeit beispielsweise der Gesichter. „Schauen Sie da die grazile Hand. Da sieht die Ergänzung doch aus wie ein aufgeklebtes Pflaster. Oder hier der Schuh, der jetzt wie geflickt wirkt. Dennoch haben viele der alten Reparaturen das Entstehen von Rissen und größeren Schäden ver-hindert. Möglicherweise wäre die Tapisserie sonst inzwischen vielleicht völlig zerschlissen und überhaupt nicht mehr zu retten.“
Problematisch ist aber vor allem, wenn die Stopfstellen mit unelastischem Zwirn oder recht plump ausgeführt sind. Manches erinnert daran, als hätte Großmutter mit der Stopfnadel Löcher ordentlich fest geschlossen. Dabei muss aber berücksichtigt werden, dass nicht immer professionelle Restaura-toren die Rettungsmaßnahmen durchgeführt haben. Auch das großflächige Einweben neuer Partien wird heute eher vermieden, weil das Original damit verloren ist.
Die Rückseite spricht Bände
Nicht nur, dass solche derb geflickten Stellen aus der filigranen Originalwirkerei äußerst störend hervorstechen. Diese in unbekannter Zeit (eventuell nach dem Zweiten Weltkrieg) ausgeführten Reparaturen evozieren sogar neue Schäden: Unterschiedliche Spannungen haben dazu geführt, dass rund um die Einwirkungen Kräuselungen entstanden sind, zudem drücken dicke Verknotungen von den Einwirkfäden nach vorne durch. „Die Rückseiten solcher Tapisserien sprechen manchmal Bände“ sagt Gisela Trosbach und zeigt eine Stelle mit auffallendem Faden-Knoten-Wirrwarr.
Heute sehen solche Rettungsmaßnahmen an Tapisserien anders aus: Das Originalgewebe wird mit Stoff (feinem Leinen) hinterlegt, und zwar mit einem sorgsam geplanten System von Sicherungsstichen ganz behutsam am Original befestigt, damit es auf Dauer nicht zu Verzerrungen kommt. Darauf werden dann die offen liegenden, in ihrer alten Struktur fein säuberlich arrangierten Kett- und Schussfäden mitSpannstichen fixiert – natürlich in den passenden Farben und so, dass sich die Partien stabilisieren und zugleich der vorhandenen Gewebespannung elastisch anpassen. Einfach ordentlich festzurren, damit sich der Aufwand auf lange Sicht hin rentiert, würde in diesem Fall genau das Gegenteil bewirken.
„Das heutige Vorgehen hat den Vorteil, dass es im Gegensatz zu den früheren Einwirkungen reversibel ist. Wer weiß, ob spätere Generationen nicht bessere Restaurierungsmethoden ersonnen haben werden“, erklärt Gisela Trosbach. Nur ganz wenige und kleinere Partien „intarsiert“, also füllt sie neu, nur ab und zu trennt sie Fäden auf, etwa an Übergangsstellen von Einwebungen zur Ori-ginalwirkerei, um Spannungen herauszunehmen. „Ich achte besonders auf Bereiche, die vom Motiv her besonders fein gearbeitet sind, wie bei Gesichtern und Händen. Die sollen ja meist auch von der künstlerischen Intention her die Blicke der Betrachter auf sich ziehen.“
Gisela Trosbach deutet wieder auf eine der wunderschön filigran gearbeiteten Hände und auf einen der Fingernägel: An dessen Umfassung sieht man eine ausgeblichene, hellweiß hervortretende alte Reparaturnaht. Mit dieser Störstelle müsse unbedingt etwas geschehen: „Es gäbe die Möglichkeit, den Faden herauszutrennen. Damit könnte aber das Originalgewebe instabil werden. An manchen Stellen wie dieser kann als letztes Mittel der Reparaturfaden auch retuschiert werden.“
Unsensible Zickzacknähte
Was sie allerdings schon gleich entfernt hatte, nachdem sie die Tapisserie in ihre Obhut genommen und vom Staub befreit hat: all die rückseitig aufgebrach-ten Leinenstreifen, die das große Gewebe stützen sollten. Auch die Gurtbänder an der oberen und unteren Kante hat sie entfernt: Am oberen Band war Flachstahl eingeschoben zur Befestigung mit Haken an der Senatswand. Unsensibel war früher gar mit Nähmaschine im Zickzackstich bis auf die Tapisserie durch gearbeitet worden: Vermutlich wollte man zwei Probleme in einem lösen, denn der Zickzackstich hält auch eine Schlitznaht auf dem Wirkgewebe zusammen – allerdings zieht er das Gewebe schädlich zusammen. Andere (vermutlich alte) Stützbänder waren früher schon auch mal mit Klebevlies nachträglich befestigt worden. Ein solch stabilisierendes Streifenkorsett war zwar nicht unüblich, doch hat Gisela Trosbach (ihre Diplomarbeit behandelte die Aufhängung von Wandteppichen) schnell an ihrem aktuellen „Patienten“ dessen Nachteile diagnostiziert: Die Ränder waren quasi versteift und eingestaucht, was nicht nur die Abmessungen veränderte, sondern auch Spannungen zum übrigen Textil hervorrief. Ohnehin waren die Ränder des Teppichs besonders geschädigt: manche Partien waren ausgefranst oder löchrig, manche fehlten gleich völlig.
Fäden selbst färben
Abgesehen von all dem merkwürdig anmutenden Feinwerkzeug am Arbeitsplatz der Restauratorin fallen die Kästen und Schachteln mit schier unzähligen Garnrollen auf, die sie rund um die Tapisserie griffbereit drappiert hat. Es sind hauchdünne DMC-Garne aus Frankreich: reine Baumwolle und in einer großen Farbpalette verfügbar. Das heißt, manchmal genügt Gisela Trosbach selbst dieses Angebot nicht. Schwierig sei es vor allem, bei ganz hellem Rosa, Beige und Grün den richtigen Ton zu finden. Sie zieht Beutel voller selbst gefärbter Fäden hervor: „Ich färbe nach eigenen Rezepturen, die ich mithilfe der Reflexionsspektren der Originalfarben für moderne Farbstoffe berechne.“ Wieder deutet sie voller Bewunderung auf die Tapisserie und empfiehlt den Blick durch eine Lupenbrille fürs genauere Betrachten: Hautpartien, Augen, Münder, Hintergründe mit Himmel und Wolkenschleiern oder wucherndes Pflanzengrün sind in einer unglaublich komplexen Farbvielfalt „gemalt“. Man verfolgt zum Beispiel einen einzigen hellgrünen Faden, der sich an einem Blattrand nur über wenige Kettfäden zwischen zwei und drei Zentimetern entlangzieht bevor er von einem anderen Grün abgelöst wird.
Obendrein kann eine solche Spur unvermittelt zwischen Wolle und Seide wechseln. Ein System für den Materialeinsatz habe sie nicht erkennen können, sagt Gisela Trosbach. „Zweifelsohne haben die Wirker ihren Spielraum nach der künstlerischen Kartonvorlage kreativ voll ausgenutzt.“ Leider sind die seidenen Partien mehr geschädigt als die wollenen: Die seidenen Schussfäden sind brüchig oder ganz ausgefallen, die wollenen Kettfäden, die sie eigentlich umschließen sollen, liegen offen und sind damit ihrerseits ungeschützt. Mal sind solche Partien im Gegenlicht „nur“ schütter und lichtdurchlässig, mal klaffen regelrecht Löcher.
Kosten und Berufsethos
All diese im Laufe der Zeit sich zur Gebrechlichkeit angehäuften Defekte konnten aber nichts daran ändern, dass gerade das knifflige Ineinander von Farbtönen und Materialien die faszinierende Lebendigkeit dieser plastischen Bildwirkerei erhalten hat. Gisela Trosbach merkt man nicht nur den Respekt vor den Originalarbeiten an, sondern auch berechtigten Stolz auf ihr eigenes Tun: Man muss schon fast mit der Nase darauf gestoßen werden oder ein kräftiges Streiflicht bemühen, um ihre delikaten Lebensrettungsmaßnahmen zu entdecken. „Während des Arbeitens gehe ich oft um die Tapisserie herum und schaue mir alles aus verschiedenen Blick- und Lichtwinkeln an, damit nichts störend wirkt.“
Sie muss noch eine weitere Perspektive berücksichtigen: Den vorgegebenen Kostenrahmen. „Da ist eben nicht alles umsetzbar, was durchaus machbar wäre. Aus finanziellen aber auch aus berufsethischen Gründen muss man manchmal eben auch einfach Nachsicht üben und etwas einfach so lassen wie es ist, aber eben ordentlich gesichert.“ (Karin Dütsch)
Siehe hierzu den Beitrag "Wirkungsvolle Ablenkung" von Mathias Fahrmeir in UNSER BAYERN, Ausgabe März/April 2023
Abbildungen (von oben):
Nadeln, wie sie bei Augen-Operationen verwendet werden, sind für Gisela Trosbach ein ideales Werkzeug. (Foto: Karin Dütsch)
Besonders in Gesichtern sieht man feine Farbschattierungen, die für einen lebendigen Ausdruck sorgen. Den Fleck am Kinn des bartlosen Mannes links hat die Restauratorin als Warze identifiziert. Der hervorstechende lila Faden ist nur ein Markierungsfaden für das aktuelle Arbeitsgebiet. (Foto: Karin Dütsch)
Das Weiß am Fingernagelrand ist ein Beispiel früheren „Flickens“, das heute durch Farbausblutungen störend ins Auge springt. (Foto: Karin Dütsch)
Frühere Einwirkungen minden nicht nur den farblichen Eindruck, sondern ziehen wegen des unterschiedlichen Materials und der handwerklichen Umsetzung auch das umgebende Originalmaterial kräuselnd zusammen. (Foto: Karin Dütsch)
Hier sieht man gut, wie fragil manche Stellen sind, wenn die quer verlaufenden Kettfäden blank liegen. (Foto: Karin Dütsch)
Damit der schwere Wandbehang nicht seine Form verlor, hat man ihm früher ein rückseitiges Stützkorsett verpasst. Überwiegend waren das Leinenstreifen. Allerdings hat sich über die Zeit gezeigt, dass die Absicht sich ins Gegenteil verkehrt hat: Die Form wurde nicht gewahrt, vielmehr zogen die Bänder das gewirkte Material viel zu stramm zusammen. Gisela Trosbach hat die Streifen sofort entfernt, was auch für die spätere Reinigung notwendig war. (Foto: Gisela Trosbach)
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