Es war eine liebe Zeit, die gute alte Zeit vor anno 14. In Bayern gleich gar. Das Bier war noch dunkel, die Menschen warn typisch; die Burschen schneidig, die Dirndl sittsam und die Honoratioren ein bisserl vornehm und ein bisserl leger. Es war halt noch vieles in Ordnung damals“. So charakterisiert Georg Lohmeier im „Trailer“ zu seiner Erfolgsserie Königlich bayerisches Amtsgericht die Prinzregentenzeit – historisch gesehen, die Zeit des Bürgertums. Das Bier ist heute vielleicht nicht mehr so dunkel und auch sonst hat sich vieles stark verändert. Und es verschwinden allmählich die letzen Relikte dieser Zeit, der Zeit des Münchner Bildungsbürgertums mit seinem ausgeprägten Standesbewusstsein.
Erwartung übertroffen
Ein außerordentlicher Glücksfall war es deshalb, als sich im Sommer 2013 Wolfgang von Schiber im Staatsarchiv München nach der Möglichkeit der Archivierung seines Familienarchivs erkundigte, das er als Lebenswerk seines
Vaters in guten und professionellen Händen wissen wollte. Schon die erste sehr grobe Sichtung der in eigens für die Archivierung der Schriftstücke angefertigten Holzkisten ließ vermuten, dass es sich hier um ein sehr außergewöhnliches, mit viel Liebe und Sachkenntnis angelegtes Familienarchiv eines Bildungsbürgers aus dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert handeln musste. Um es vorweg zu nehmen: der erste Eindruck wurde nach einer intensiveren Sichtung und Erschließung noch bei weitem übertroffen.
Nachdem das Archiv dem Staatsarchiv München übereignet worden war, konnte eine Erschließung des Bestandes in den dortigen Räumlichkeiten angegangen werden. Bei derartigen Erschließungstätigkeiten wird zunächst versucht, eine vorarchivische Ordnung zu rekonstruieren, die einen ersten Anhaltspunkt für eine sinnvolle sachthematische Gliederung der Unterlagen verspricht. Im Falle des Schiber‘schen Archivs war dies recht einfach, war doch auf den Holzkisten eine Nummerierung angebracht.
Aufbau phantastisch dokumentiert
Gleich die ersten Akten förderten schier Unglaubliches zutage: Akten über die Tektonik des Archivs, über die Gliederung nach familiengeschichtlichen Themen, über die Aufbewahrung des Archivs in Holzkisten und schließlich die Nummernbücher. In diese Bücher waren sämtliche im Familienarchiv überlieferten über 25 000 Schriftstücke mit fortlaufenden Nummern eingetragen worden und auch zusätzlich der Vermerk angebracht, unter welchem Sachaktenzeichen die Schreiben abgelegt worden waren. Auch die Aktenzeichen selbst hatten eine eigene Struktur erhalten, überwiegend nach genealogischen Gesichtspunkten. Ferner existiert auch eine Archivbenützungsordnung und ein nach farblichen Merkmalen abgestuftes Ordnungsschema.
Der Schöpfer dieser umfassenden Ordnung war Wilhelm von Schiber (1889 bis 1963), der Vater des Schenkers. Er war ein gebürtiger Münchner, machte auf dem Münchner Theresiengymnasium sein Abitur, studierte anschließend in Heidelberg, München, Kiel und Erlangen Rechts- und Staatswissenschaften und war anschließend aktiver Kriegsteilnehmer von 1914 bis 1918. Aus dieser Zeit sind rund 1000 Feldpostbriefe von und an ihn überliefert. Darüber hinaus führte er ein Kriegstagebuch, das der passionierte Zeichner gelegentlich mit Skizzen anreicherte. Doch nicht genug damit: Zum Kriegstagebuch sind noch vier Anlagenbände überliefert, in denen Wilhelm von Schiber alles sammelte, was ihm wichtig erschien: Postkarten zu den Einsatzorten, Fotografien der Truppe, Einsatzbefehle, Eintrittskarten, Notgeld usw.
Von Verwandten "aktiv" abnehmen
Nach seiner Demobilisation fand er bei der Bayerischen Versicherungskammer eine Stelle als Regierungsrat. Nach seiner Heirat 1934 mit Margarete Fischer und mit dem Kriegsausbruch 1939 wurde er erneut eingezogen und kam als Ortskommandant der Ortskommandantur I/635 in den Norden von Frankreich. Nach Kriegsende und einer fast einjährigen Internierung nahm er nach einiger Zeit und längeren Querelen mit der Militärregierung wieder seine Arbeit bei der Bayerischen Versicherungskammer auf.
Während seines gesamten Lebens war Wilhelm von Schiber darum bemüht, sein Familienarchiv zu ordnen und mit Dokumenten zu ergänzen, die ihm von Verwandten übereignet wurden oder die er diesen aktiv „abzunehmen“ verstand. Er pflegte einen umfangreichen Briefwechsel mit sämtlichen Verwandten, näheren und weiteren Familienangehörigen, vor allem über genealogische und familienkundliche Fragen. In erster Linie aber bemühte er sich um die Erstellung umfangreicher Stammtafeln und Stammreihen zu seinen Vorfahren, wobei er viel Geld für Auftragsarbeiten von Genealogen ausgab, die ihm entsprechende Quellenauszüge und Stammreihen lieferten, die diese aus Archivalien unterschiedlichster Provenienz schöpften. Er selbst konnte sich dieser Aufgabe nicht immer mit der ihm wünschenswerten Intensität widmen, kamen ihm doch, wie er an das Staatsarchiv Amberg ironisch schrieb, zu dem stets geplanten Besuch zwei Weltkriege dazwischen.
Selbst Haarlocken einsortiert
Auf diese Weise entstanden zahlreiche Familienakten mit Auszügen aus Kirchenbüchern, Heiratsprotokollen, Personalakten, Fotografien, Originalbriefen, komplett ausgearbeiteten Stammreihen, Wappenzeichnungen, Siegelabdrücken aber auch Haarlocken, alles nach dem von ihm ausgearbeiteten Schema geordnet.
Neben dieser Passion widmete er sich auch der Schriftstellerei. So verfasste er – meist unter dem Pseudonym Wilhelm Burkhardsberg, dem Herkunftsort der ersten greifbaren Vorfahren – zahlreiche genealogische und familiengeschichtliche Arbeiten, zum Teil auch umfangreicher Natur, wie Die Ahnen des Wilhelm von Schiber (1932), die Münz- und Schaumünzkunde für Familienforscher (1937), die Geschichte Der von Steinsdorf (1930), Die Ernst von Hagsdorf, die Ernst aus Vohburg und ihr Verwandtschaftskreis (1931), Die Nachfahren des Johann Baptist Simon Ritters von Schiber aus dem Haus Burkhardsberg (1957) und nicht zu vergessen seine Vorarbeiten zur Familienchronik (1911 bis 1917). Darüber hinaus beteiligte er sich an zahlreichen Preisaufgaben, schrieb die Gedichtzyklen Rote Blätter, Natur und Erotik und Revolutionszyklus sowie zahlreiche weitere nicht in Zyklen zusammengefasst Gedichte und Kurzgeschichten, die meist unpubliziert in seinem Familienarchiv schlummern.
Notenblätter vom Vater
Wilhelm von Schiber dürfte seine Leidenschaft für die Familie und auch seinen Bildungsstand – er beherrschte fließend Englisch, Französisch und Latein, worin er in seiner Jugend sogar seine Tagebücher schrieb – von seinem Vater Franz Xaver von Schiber (1834 bis 1920) mitbekommen haben. „Xavier“ oder „Boraxl“, wie dessen Kosenamen lauteten, war ebenfalls Jurist und hätte aufgrund seiner ausgezeichneten Noten große Karriere im diplomatischen Dienst machen können, blieb aber auf ausdrücklichen Wunsch seines Vaters im bayerischen Verwaltungsdienst. Er war ab April 1868 zunächst als jüngster bayerischer Bezirksamtsassessor in Pfarrkirchen tätig, anschließend in Fürth, Wasserburg und Berchtesgaden, von 1878 bis 1888 Bezirksamtmann in Lindau. Nur ungern verließ er das geliebte Lindau Richtung München, doch seine angeschlagene Gesundheit ließ einen Rückzug ins Privatleben ratsam erscheinen. Er musste sich einem Aufenthalt in der Nervenheilanstalt Neuwittelsbach in München unterziehen und widmete sich ganz seinen selbstgewählten Aufgaben, primär der Herausgabe eines italienischen Wörterbuchs. Die Ablehnung des Lexikons durch die Verlage bescherte ihm wiederum eine seiner schweren persönlichen Enttäuschungen. Daneben spielte er Gitarre und Klavier, so dass sich in seinem Nachlass eine Reihe von Noten und Lieder vor allem für die Gitarre finden. Darüber hinaus finden sich im Familienarchiv seine umfangreichen Tagebuchserien, zahlreiche Briefe und Fotografien sowie eine Visitenkartensammlungen.
Verheiratet war er mit seiner Base, Sophie Maillinger (1865 bis 1951), die aus Landau in der Pfalz stammte. Nach dem Umzug der Familien nach München im Jahr 1877 gehörte sie zum engsten Freundeskreis der Familie Barlow (Barlow-Palais, später Braunes Haus). Dort lernte sie auch Franz von Schiber kennen, den sie 1888 heiratete. Über Sophie von Schiber kam auch ein großer Teil des Nachlasses, die Familie Maillinger betreffend, zum Familienarchiv.
"Nähzeugtempel" zur Hochzeit
Für das Familienarchiv besondere Bedeutung als Archivalienzuträger hatte noch eine frühere Schiber-Generation: das Elternpaar des Franz von Schiber, nämlich Gustav Achilles von Schiber und seine Frau Caroline Baumüller. Gustav Achilles Schiber, genannt „Gustl“ wurde 1812 in Amberg geboren. Sein Vater, Johann Baptist Simon Ritter von Schiber, war zu dieser Zeit Justitiar am Appellationsgericht in Amberg, jedoch zog die Familie nach dessen Ernennung zum Generalfiskalrat 1819 nach München um, wo Gustl die Kadettenschule besuchte. 1831 wurde er Junker im Infanterie-Leib-Regiment und heiratete 1833 im Münchner Dom Karoline Baumüller. Da Gustav ein äußerst begabter Zeichner und begnadeter Bastler war, fertigte er zur Hochzeit für seine Braut den überlieferten „Nähzeugtempel“.
Seiner beruflichen Karriere kamen seine Fertigkeiten im technischen Zeichnen sehr entgegen, wurde er doch 1842 ins Topographische Bureau versetzt, das zu diesem Zeitpunkt genau dort untergebracht war, wo heute erneut sein schriftlicher und zeichnerischer Nachlass verwahrt wird: im Staatsarchiv München, dem ehemaligen Kriegsministerium.
Zahlreiche Skizzenbücher
Nach weiteren Karrieresprüngen zum Hauptmann und Major schied der 1863 aus dem Verband aus. Im privaten Bereich zeigten sich Gustav, Caroline und „Xavier“ sehr reiselustig, verbrachten viel Zeit auf dem ihrem Freund Ludwig Freiherrn von Verger gehörenden Sitz Ramsdorf in Niederbayern, das mehrfach von Gustav in seinen zahlreichen Skizzenbüchern verewigt ist, sowie im Chiemseeraum. Darüber hinaus sind noch mehrere Ölbilder aus seinem Pinsel im Familienbesitz vorhanden.
Seiner Geselligkeit folgend, war er Gründungsmitglied des Harbni-Ordens (1850), einer Gesellschaft wider den tierischen Ernst, dem eine Reihe von bekannten Münchner Persönlichkeiten angehörten, zum Beispiel Max von Pettenkofer. Auch hierzu findet sich im Familienarchiv eine reiche Überlieferung. Er war auch der erste der Familie, der aufgrund seiner persönlichen Bekanntschaft mit Franz Xaver Gabelsberger und einem Faible für die Kurzschrift diese auch verwendete, wie später vor allem der Archivgründer Wilhelm von Schiber dies exzessiv tat. Seine Frau Caroline Baumüller beschränkte sich nach ihrer Hochzeit vorzugsweise auf die Kindererziehung und den Haushalt. Sie bereicherte das Familienarchiv mit ihrem Freundschaftsalbum, das neben schönen Miniaturen und Sinnsprüchen auch noch einen umfangreichen Freundes- und Familienkreis dokumentiert.
Handschriftliche Kopien von Archivalien
Vater von Achilles und Stammvater der heutigen Linie von Schiber war Johann Baptist Simon von Schiber (1770 bis 1836) aus Burkhardsberg in der Oberfalz (Landkreis Schwandorf). Nach dem Studium der Jurisprudenz und der Promotion in Ingolstadt war er zunächst Landkommissär in München, ab 1804 Landesdirektionsrat zu Amberg. Seit 1808 war er Kronfiskal beim Appellationsgericht in Amberg und stieg 1819 zum Generalfiskalrat in München auf, 1826 zum Kronanwalt beim K. Staatsministerium der Finanzen. 1836 ist Johann Baptist von Schiber in München gestorben. Auch von ihm sind einige Originale im Familienarchiv überliefert. Vor allem ein Briefwechsel aus dem Ende des 18. Jahrhunderts verdient hier Erwähnung. Darüber hinaus wurden zahlreiche Archivalien aus dem Staatsarchiv Amberg, dem Staatsarchiv München und dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv zum Teil wörtlich abgeschrieben bzw. exzerpiert und liegen dem Personenakt Johann Baptist von Schibers bei.
Umfangreiche Fotothek
Neben den zahlreichen in der aktuellen Forschung so bezeichneten „Ego-Dokumenten“, wie den Tagebüchern und Briefen, den Freundschaftsalben und Skizzenbüchern, bildet eine mehr als umfangreiche Fotothek einen krönenden Abschluss des Familienarchivs. Hier sind in zwei größeren Kartotheken Fotografien zu allen Familienangehörigen und allen Familienzweigen versammelt. Die ältesten Aufnahmen gehen sicherlich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Es handelt sich hier also nicht nur um eine familiengeschichtlich höchst bemerkenswerte Quelle, sondern auch um eine technikgeschichtliche, die den Einfluss der Technik auf das Standes- und Selbstbewusstsein des Bildungsbürgertums dokumentiert.
Dass es für das gesamte Archiv auch noch zusätzlich eine Namens-, Sach- und Ortskartei gibt, die auf die Nummernbücher rekurriert, hat bei der Akribie des Archivgründers schließlich nicht mehr allzusehr verwundert.
Das „Familienarchiv Schiber“ lädt Kulturhistoriker, Genealogen und kulturgeschichtlich Interessierte ein, der großen Zeit des Bürgertums aber auch seines Niedergangs anhand seiner eigenen Quellen nachzugehen. Es ist eine unschätzbare Fundgrube. Zum Familienarchiv ist ein umfangreiches und detailliert gegliedertes Findbuch vorhanden, das im Repertorienzimmer des Staatsarchivs München einsehbar ist. (
Christoph Bachmann)
Privates im Staatsarchiv
Das Staatsarchiv München besitzt zahlreiche Archive bedeutender Adelsfamilien, wie zum Beispiel der Grafen von Toerring, der Grafen von Sandizell oder der Freiherrn von Gumppenberg. Zum Bestand gehören auch Archive von Hofmarken, das heißt Verwaltungsarchive, die auf kleinere Herrschaften radiziert waren und unterschiedliche Besitzerfamilien hatten. Zu nennen wären hier die Hofmarksarchive Hohenaschau, Egglkofen oder Stein an der Traun.
Ferner werden auch kleine „Hausarchive” verwahrt, also Unterlagen, die teilweise über Jahrhunderte auf bäuerlichen Anwesen einen Teil des Hauses bildeten.
Das Staatsarchiv ist bestrebt, historisch, genealogisch und kulturell bedeutende Privatarchive zur Ergänzung seiner Bestände zu übernehmen und zu sichern. Hier ist der Informationswille der Besitzer über die Existenz derartiger Privatarchive gefragt, da diese meist im Verborgenen schlummern. Gelegenheit hierzu bietet sich im Rahmen eines Besuchs im Staatsarchiv oder auf dem alle zwei Jahre stattfindenden „Tag der Archive” (wieder 2018).
Staatsarchiv München, Schönfeldstr. 3, 80539 München.
Beratung: Mo. bis Do. 8.30 bis 16 Uhr, Fr. 8.30 bis 12.30 Uhr
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