Nach Angaben des Senders Radio Free Europe sind während des Zweiten Weltkrieges 694 000 Polen in deutschen Kriegsgefangenenlagern inhaftiert gewesen. Darunter waren etwa 60 000 Offiziere. Rund 5000 dieser ranghohen Militärs saßen in Murnau am Staffelsee ein, im sogenannten Oflag VIIA. Am Sonntag, 29. April 1945, um 15.30 Uhr übergab der polnisch sprechende Wehrmacht-Hauptmann Oswald Pohl mit weißer Fahne in der Hand das Lager einem Vorkommando der amerikanischen 12th Armored Division. Die Gefangenen kamen nach fünfeinhalb Jahren frei.
Die Marktgemeinde Murnau (Landkreis Garmisch-Partenkirchen) hält die Erinnerung an die arretierten polnischen Staatsbürger wach. Einige der Polen waren immer wieder zu Besuch am Staffelsee. Ein Ehrenmal mit den Gräbern der im Lager Verstorbenen wird im Zentrum des örtlichen Friedhofs gepflegt. Zweimal im Jahr, zum Volkstrauertag im November und im April, legen dort vor dem Tuffstein-Denkmal mit dem polnischen Adler Vertreter des polnischen Generalkonsulates aus München gemeinsam mit der Murnauer Rathausspitze Kränze nieder. Es gibt außerdem einen Erinnerungsstein vor dem früheren Gefangenenlager, das heute als Kaserne der Bundeswehr genutzt wird.
Wie ist es den Kriegsgefangenen in Murnau ergangen? Die Archivarin der Marktgemeinde, Marion Hruschka weiß aus den Akten: „Die im Oflag VIIA inhaftierten polnischen Offiziere, darunter 30 Generäle gehörten zur Elite ihres Volkes. Akademiker aller Fachrichtungen trafen in Murnau zusammen. Nach den Bestimmungen der Genfer Konvention des Internationalen Roten Kreuzes durften die Offiziere nicht zu Arbeiten herangezogen werden. Die Männer nutzten die Zeit gut. Es entstand ein vielfältiges Lagerleben. Arbeitskreise wurden gegründet, ein Orchester und eine Theatergruppe bildeten sich.“
Ein ehemaliger Gefangener urteilte: „Es waren gewiss keine erfreulichen Jahre in Murnau. Aber wir können der göttlichen Vorsehung gar nicht genug danken, dass wir nicht in russische Hände fielen und nach Katyn kamen.“ Dort, bei Smolensk, etwa 170 Kilometer südwestlich von Moskau, waren im Frühjahr 1940 mehr als 4000 polnische Offiziere von Russen erschossen worden.
Die ersten Gefangenen sind unmittelbar nach Kriegsbeginn, im Oktober 1939, in Murnau angekommen. In Murnau gab es zwei Wehrmachtskasernen: Die Kemmelkaserne war mit Soldaten belegt. Die 1938 erbaute Panzerjägerkaserne (die heutige Werdenfelser Kaserne) blieb frei, denn die dafür vorgesehenen Einheiten der Gebirgstruppe gingen in den Polenfeldzug. Die Panzerjägerkaserne war also der ideale Platz für ein Gefangenenlager; lediglich der Anschluss an die Wasserversorgung der Gemeinde war auch 1940 noch nicht abgeschlossen.
Die Gefangenen waren zuerst in Auffanglagern interniert, dann folgte die Verteilung auf die einzelnen Wehrkreise in Deutschland, wie eben den Wehrkreis VII der Region Oberbayern. Das Murnauer Gefangenenlager war entsprechend der Genfer Konvention nur mit Offizieren belegt worden, hieß also Oflag (Offizierslager)VIIA. Murnau war im Reigen der zwölf deutschen Oflags sicherlich nicht das Größte, aber in ihm waren die ranghöchsten Insassen. Marion Hruschka: „Zu den hier untergebrachten Kriegsgefangenen gehörte der Oberkommandierende der polnischen Flotte, Admiral Jozef von Unrug, und der Verteidiger von Warschau, General Juliusz Rómmel. Bedeutende polnische Staatsangehörige zählten zu den Insassen des Oflag VIIA. Auch Kazimierz Makarczyk, Mitglied der polnischen Schach-Nationalmannschaft war darunter.“
Insgesamt 17 Transporte brachten zwischen 1939 und 1945 die Gefangenen nach Murnau. Viele Offiziere kamen aus anderen Lagern, etwa aus Eichstätt und Laufen. Ein Transport mit fast 600 Personen traf im Oktober 1944 nach dem Warschauer Aufstand ein – die dort gefangen genommenen Polen wurden nach einer Übereinkunft mit Deutschland in den Offiziersrang übernommen, so kamen sie ohne weitere Repressalien ins Lager am Staffelsee. Ende Dezember 1939 war das Oflag VIIA mit 2150 Männern belegt, am 29. April 1945 waren es 5434.
Neben den Offizieren gab es dort allerdings auch, so der Murnauer Militärhistoriker Martin Lohmann, einige hundert Mannschaftsdienstgrade: sie verrichteten zum Beispiel Küchendienste und arbeiteten in der Wäscherei. Einige wenige dieser „einfachen“ Kriegsgefangenen waren bei einheimischen Bauern in der Landwirtschaft eingesetzt worden. Das Lager war nur mit Inhaftierten einer Nation belegt, nämlich Polen. Erst kurz vor Kriegsende kamen Gefangene anderer Nationen dazu. Die Konzentration auf eine Nationalität geschah aus praktischen Gründen. So musste die Lagerverwaltung Schriftstücke und Informationen nur in einer Sprache abfassen.
Der Gefangene Stefan Majchrowski schrieb später über einen Transport von Ende Oktober 1939: „Ein Zug mit ungefähr tausend Kriegsgefangenen war unterwegs zum Bahnhof Murnau. Es waren hauptsächlich Offiziere der Gruppe um General Kleeberg, also die letzten Soldaten der September-Schlacht. Anfangs wusste niemand wohin die Fahrt ging. Beim Zwischenhalt in München blieb der Zug etwas länger stehen. Auf dem Bahnhof rauchten die Kessel mit Suppe und Kaffee. Es warteten Damen des Roten Kreuzes. Die große Menge der Kriegsgefangenen, die aus den Wagenfenstern schauten, machte auf die Frauen anscheinend einen großen Eindruck. Der Zug fuhr weiter. Die Bewacher gaben bekannt, dass es nach Murnau in Oberbayern ging, einem kleinen Städtchen. Dort sei es sehr schön, sagten die Bewacher – sehr schön, wunderschön! Sie sparten nicht mit Worten der Bewunderung. Man hätte sich denken können, sie beneideten die Kriegsgefangenen, weil in Murnau so eine gesunde Bergluft sei!“
Gesunde Bergluft in Murnau: Stimmt es also, wenn in einem Zeitungsbericht von einem „Kurort hinter Stacheldraht“ zu lesen steht? Der Apotheker Marian Wache kam im Oktober 1939 mit 25 Jahren als Gefangener nach Murnau. 78-jährig besuchte er die Marktgemeinde, um Erinnerungen aufzufrischen. Er sagte: „Vom Lager aus konnte man die Berge sehen. Man durfte nur nicht raus, um sie zu besteigen.“ In besonders guter Erinnerung hatte er die deutschen Wachleute, mit denen die gefangenen Offiziere als Ehrendelegationen beispielweise zu Beerdigungen verstorbener Kameraden auf den Murnauer Friedhof gehen durften.
Martin Lohmann, der an einer ausführlichen Dokumentation über das Oflag VIIA arbeitet: „Das Lager in Murnau war in der Tat ein ,menschlicher Ort‘. Von der Lagerverwaltung der Wehrmacht aus wurde sich streng an die Genfer Konvention gehalten. Die Leute wurden anständig behandelt. Es gab keine Repressalien. Das lag nicht zuletzt daran, dass auf polnischer Seite für ihre deutschen Kriegsgefangenen nach dem Polenfeldzug zu Kriegsbeginn und später während des Warschauer Aufstandes ebenfalls die Genfer Konvention eingehalten worden war. Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes gingen regelmäßig in die Gefangenenlager und verfassten ihre Berichte.“ Die medizinische Versorgung war durch deutsche und polnische Ärzte gewährleistet. Für die Seelsorge waren polnische Militärgeistliche zuständig. Im Keller der Generalsunterkunft war eine kleine Kapelle mit einem, von einem Gefangenen geschnitzten Altar eingerichtet. Große Gottesdienste fanden auf dem Appellplatz statt. Der katholische und evangelische Ortsgeistliche von Murnau kamen auch gelegentlich ins Lager.
Im Oflag VIIA befanden sich etwa 100 Offiziere jüdischen Glaubens. Abgesehen davon, dass sie in „unbequemen Quartieren“, wie es in einer Quelle heißt, untergebracht waren (hauptsächlich auf Speichern, wo es im Sommer am heißesten und im Winter am kältesten ist), waren sie keinen expliziten Anfeindungen ausgesetzt. Martin Lohmann: „Auch die jüdischen Gefangenen durften im Oflag ihrer Religion nachgehen. Sie waren lediglich beim Appell getrennt und bei der Unterbringung. Es gibt aus den 1950er-Jahren einen regen Schriftwechsel unter den ehemaligen Gefangenen, auf welchem Befehl hin das passierte. Ob es auf Anweisung der deutschen Lagerleitung war, oder gar auf Grund der Polen selber?“ Die Verteilung der Räume war Sache des polnischen Lagerältesten.
Es herrschte Platznot. Stefan Majchrowski: „Ein Gefangener in Murnau hatte durchschnittlich zwei Quadratmeter Wohnraum zur Verfügung. In den Blocks und Kellern standen Stockbetten. Überfüllt waren die Speicher. In den Garagen richteten sich jeweils 300 Leute auf dreistöckigen Pritschen ein. So eng zusammengedrängt, dass man auf die Schlafstelle der Kameraden treten musste, um herauszukommen.“
Marion Hruschka: „Die Offiziere durften ihre Rangabzeichen behalten. Lediglich ihre Degen mussten sie gegen Quittung bei der Lagerverwaltung abgeben.“ Ein tragisches Beispiel für die korrekte Haltung der deutschen Lagerleitung gegenüber den Gefangenen gibt Oberst Freiherr Paul von Troschke ab, der zwischen Anfang 1941 und Mitte 1942 das Lager leitete. Er wurde nach einer Denunziation durch einen Untergebenen seines Amtes enthoben: Dieser hatte ihn einer zu ritterlichen Behandlung der Gefangenen, besonders der Generäle bezichtigt. Dieses Verhalten würde die deutschen Interessen schädigen, meinte der Ankläger. In einem Ehrengerichtsverfahren wurde Troschke später von den Vorwürfen freigesprochen. Sein Adjudant sagte während des Prozesses: „Herr Oberst v. Troschke war als Kommandant des Oflag VIIA bemüht, unter sorgfältiger Innehaltung der Vorschriften den gefangenen polnischen Offizieren nach dem Grundsatz zu begegnen: Wir wollen die Gefangenen behandeln, wie wir es auch unseren Kameraden in den Händen der Feinde wünschen.“ Paul von Troschke war nach dem Geschehen ein gebrochener Mann. 1944 wählte er den Freitod... (Günter Bitala)
Lesen Sie den vollständigen Beitrag in der Juli/August-Ausgabe von "Unser Bayern" (BSZ Nr. 30 vom 24. Juli 2015)
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