"Ein durchdringendes Läuten, der gellende Ruf: Das Theater fängt an! weckte mich aus dem sanften Schlaf, in den ich versunken war… Sollte der allezeit geschäftige Satan mich im Rausche – ?“, fragt verwirrt ein von E.T.A. Hoffmann so bezeichneter Reisender Enthusiast in seiner Erzählung Don Juan. Im Fortgang bringt die Hauptfigur eine unheimliche, rätselhafte Begegnung mit der leibhaftigen Donna Anna aus Mozarts Oper Don Giovanni noch mehr durcheinander. Vorgänge voller Geheimnisse.
Das weckende Läuten ertönte 1812 in der fränkischen Stadt Bamberg, die damals gerade erwachte und zugleich verschlafen dalag – wie die gesamte geistige Welt jener Epoche. Es begab sich zu einer insgesamt etwas wirren Zeit, als die Philosophie der Aufklärung das Denken allgemein wachrüttelte mit dem Ruf: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Zusätzlich war durch die Französische und die Industrielle Revolution sowie die Säkularisation das Leben in Politik, Arbeitswelt, Religion, Gesellschaft und Privatleben umgekrempelt worden. Bei manchen, die das nicht mehr so richtig verkraften konnten, lösten die Umbrüche Weltschmerz und gar Selbstmordgedanken aus, die Goethes Werther in die Tat umsetzte. Nach 1810 bahnten sich parallel dazu Tendenzen einer restaurativen Biedermeierzeit an, in deren Reigen Religion und Rokoko in ruhiger Heiterkeit wiederauflebten – wie bei einem Mozart auf der Reise nach Prag in Mörikes gleichnamiger Erzählung.
Geheimnisvolle Abgründe
Das erwähnte Läuten betätigten Universalgenies wie E.T.A. Hoffmann, welche die neuen Philosophien in Form von Literatur und Musik auf die Weltbühne brachten und die neu entstandene bürgerliche Gesellschaft mit den bis dahin unbekannten, geheimnisvollen Abgründen in der eigenen Seele konfrontierten. Man kann ohne Übertreibung sagen: Speziell nach Hoffmanns Erweckung zum Dichter während seines Bamberger Aufenthalts in den Jahren 1808 bis 1813 sollte das Bewusstsein der Menschen ein anderes geworden sein. Seine Nachwirkung noch auf Geister des 20. Jahrhunderts wie Franz Kafka oder Sigmund Freud belegen dies eindrücklich.
Die bei ihm und seinen großen Zeitgenossen auftretenden künstlichen Menschen etwa sind auch im 21. Jahrhundert weder durch Roman- noch Filmfiguren überholt worden, was die originelle Erfindung und deren geistig-hintergründige Ausgestaltung angeht. Sogar digitale oder virtuelle Roboter, beziehungsweise „kybernetische Organismen“ erscheinen weniger durchdacht als Kleists Marionetten, Büchners Puppen oder Hoffmanns Tänzerin Olimpia. Letztere markiert im Grunde einen größeren Schritt in der Geschichte des menschlichen Bewusstseins als das heute scheinbar neu Erfundene. „Ich kann wie jene Frau des Trallianus glauben, das Weltall ruhe auf meinem linken Daumen oder meine Nase sei von Glas und leuchte in den schönsten Farben prismatisch hinauf an Wand und Decke“, lässt E.T.A. Hoffmann einen Vinzenz in seinen Geschichten von den Serapionsbrüdern sagen – und man rätselt, ob dieser nicht sogar gleich ins 22. Jahrhundert blickt.
Dabei hat sich E.T.A. Hoffmann, der von Literaturwissenschaftlern in die romantische Epoche eingeordnet wird, seine Visionen keineswegs zielgerichtet-systematisch erarbeitet. Es war im Gegenteil geradezu eine Odyssee, eine geistige und räumliche Irrfahrt, die den 1776 in Königsberg in Ostpreußen Geborenen 1808 in Bamberg stranden und zum Genie erwachen ließ, bevor er weiterzog, wie es nun einmal einem „reisenden Enthusiasten“ widerfahren mag. Beruflich begann seine Karriere an seinem Geburtsort mit dem Jurastudium – in Bamberg endete er erst einmal als Musiker, Maler, Kulissenbauer und Komponist, um nur einige seiner Tätigkeiten zu nennen. In der Stadt an der Regnitz war es auch, wo sich seine Berufung zum Dichter erst richtig in seiner geistigen Existenz etablierte.
Umsturz von Gedankengebäuden
Wurden ihm aber mit dem Ausgangspunkt Königsberg nicht schon die Umwälzungen, die er auslösen sollte, in die Wiege gelegt? Über 200 Jahre vorher hatte Nikolaus Kopernikus in Frauenburg, 70 Kilometer südwestlich von Königsberg, die Ansichten des gesamten Universums revolutioniert. In seinem 1543 im fränkischen Nürnberg erstmals gedruckten Hauptwerk De revolutionibus orbium coelestium fügte er laut Sigmund Freud der Menschheit eine erste „Kränkung“ zu, indem er zeigte, dass nicht die Erde, sondern die Sonne im Mittelpunkt der damals bekannten Planetenbahnen stehe, was einen Umsturz vieler Gedankengebäude, insbesondere kirchlicher Weltbilder zur Folge hatte.
In Königsberg veröffentlichte Immanuel Kant 1755 seine Allgemeine Naturgeschichte des Himmels. Danach lehrte er, dessen Familie mütterlicherseits einst aus Nürnberg übergesiedelt war, an der Universität seines Heimatorts. Durch seine Schriften und Vorlesungen, die E.T.A. Hoffmann wahrscheinlich besuchte, schuf er eines der letzten großen philosophischen Systeme nach Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin, indem er unter anderem seine Transzendentalphilosophie entwarf. Damit hat er auf den romantischen Königsberger Jurastudenten und späteren Dichter Hoffmann zumindest indirekt eingewirkt. Sein Kollege Friedrich Schlegel propagierte nämlich in Affinität zu Kant das romantische Programm der progressiven, in gewissem Sinne auch transzendentalen Universalpoesie, womit Julius Eduard Hitzig spätestens 1804 seinen Freund E.T.A. Hoffmann infizierte.
Hitzig lernte er jedoch erst in Warschau kennen. Vorher war er zu seinem Onkel ins schlesische Glogau übergesiedelt, von wo er im Anschluss an ein bestandenes Referendarexamen auf eigenen Wunsch nach Berlin versetzt wurde. Eine erfolgreich absolvierte dritte juristische Prüfung bewirkte seine Ernennung zum Assessor am Obergericht in Posen. Mit Sicherheit begegnete er dort dem einen oder anderen ausgewanderten Bamberger, denn in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beschlossen die Posener Ratsherren, Siedler aus der Umgebung von Bamberg anzuwerben, damit sie die wegen Krieg und Krankheit brach liegenden Felder in der Umgebung bebauten. Ohne es zu wissen und diesen Zusammenhang jemals zu realisieren – genauso wenig wie die Hoffmann-Biografen – kam der damalige Assessor also „a priori“, um mit Kant zu sprechen, in Berührung mit Menschen aus jener Stadt, in welcher er sechs Jahre später seine Erweckung zum Dichter von Weltliteratur erfahren sollte. Geheimnisvolle Verbindungen – ganz im Sinne der Romantiker.
Weil E.T.A. Hoffmann aber Karikaturen auf Persönlichkeiten der Posener Gesellschaft zeichnete, wurde er 1802 ins provinzielle Płock im heutigen Polen strafversetzt. 1803 erschien seine erste gedruckte Schrift, das Schreiben eines Klostergeistlichen an seinen Freund in der Hauptstadt. Ein Jahr später kam Hoffmann, schon in Posen mit seiner geliebten Michalina verheiratet, nach Warschau, wo er allerdings wegen des Einzugs der Franzosen alsbald seine Stellung verlor. Auf diese Weise verschlug ihn das Schicksal wie den mythischen Odysseus in eine andere Stadt, diesmal wieder zurück nach Berlin. Dort musste sich der arbeitslos gewordene, herumirrende preußische Beamte um einen neuen Broterwerb kümmern. Nunmehr sah er seine Zukunft endgültig auf künstlerischem Gebiet: als Maler oder Musiker. Schon mit elf Jahren hatte er ersten Musikunterricht genossen, bald darauf widmete er sich in Mußestunden zusätzlich dem Komponieren und besuchte eine Aufführung von Mozarts Don Giovanni.
Trank der Unsterblichkeit
Im November 1807 endlich erhielt er als Antwort auf seine Suchanzeige das Angebot des Grafen von Soden, dem Direktor des Bamberger Theaters, an der Regnitz Musikdirektor zu werden – wenn er zur Probe das Soden’sche Opernlibretto Der Trank der Unsterblichkeit vertone. Zu Beginn des nächsten Jahres nahm E.T.A. Hoffmann diesen Trank gleichsam zu sich, bestand die Probe und kam am 1. September 1808 in Bamberg an.
Eine Wohnung fand er im Haus an der Nonnenbrücke 10. Die Straße erhielt später diesen Namen in Erinnerung an das ehemals angrenzende und im Zuge der Säkularisation aufgelöste Nonnenkloster der Clarissen. Als Hoffmann in Bamberg ankam, war es, wie so manches andere Kloster, in eine Kaserne umgewandelt worden – für viele eine zwar neue, aber verkehrte, fast schon verrückte Welt. Die Nonnenbrücke führte über einen der vielen Wasserläufe in der Bamberger Inselstadt. Im Unterschied dazu trug die sogenannte Geistliche Bergstadt weitere Kirchen und Klöster, neben dem Domstift beispielsweise das der Karmeliten oder das Kloster Michaelsberg, die bis zur Säkularisation 1802 in eigenen Rechtsbezirken lagen, den „Immunitäten“, teilweise jenseits von Toren oder Ummauerungen.
All diese Strukturen waren für E.T.A. Hoffmann noch deutlich erkennbar, die Grundeinteilung Inselstadt im Regnitztal und Geistliche Bergstadt auf den angrenzenden Hügeln ist heute noch augenfällig. Unser Dichter muss einerseits vom Gassengewirr in der ganzen Stadt schaurig ergriffen worden sein; andererseits zog es ihn wegen deren Dunkelheit und Enge fast täglich in die offene Landschaft hinaus, die heute noch an vielen Stellen direkt an die aus dem Mittelalter bewahrten Gässchen angrenzt.
„Am Michaelistage, eben als bei den Karmelitern die Abendhora eingeläutet wurde, fuhr ein mit vier Postpferden bespannter stattlicher Reisewagen donnernd und rasselnd durch die Gassen des kleinen polnischen Grenzstädtchens L. und hielt endlich still vor der Haustür des alten teutschen Bürgermeisters“, heißt es zu Beginn von Hoffmanns Erzählung Das Gelübde aus der Sammlung Nachtstücke – eine wohl von Bamberg inspirierte Szene, geschrieben in seiner typischen Erzählform: Mehrere Vorgänge geschehen gleichzeitig, vieles überraschend, manchmal in einem winzigen Augenblick.
Verwirrend verwinkelt
Barocke Fassaden und mittelalterliche Gebäude kannte Hoffmann bereits aus Warschau oder Posen; etwas Besonderes waren in Bambergs Innenstadt die verwirrenden Parzellierungen der Grundstücke, auf denen sich noch heute sehr kleine Häuschen mit palastartigen Gebäuden auf winzigen Inseln abwechseln. Geheimnisvolle Gassen, Wasserläufe, Brücken, Stege, Durchgänge, Mühlenverschläge, Durchschlupfe, Kanäle, Übergänge und Aufgänge, die unvermittelt zu Treppen, Terrassen, Abzweigungen und Kreuzungen führen, bilden nach wie vor ein Labyrinth, das für die Darstellung einer geistig scheinbar ungeordneten, aber doch noch im katholischen Glauben geborgenen Welt keine bessere Vorlage bieten kann.
So ein kleines, verwinkeltes Häuschen, im Erdgeschoß nur so breit wie eine Tür und ein Fenster daneben, bezog E.T.A. Hoffmann mit Michalina 1809, weil er sich die erste Wohnung nicht mehr leisten konnte. Die Zusammenarbeit mit dem Theater, insbesondere mit dem Orchester ... (Andreas Reuß)
Lesen Sie den vollständigen Beitrag in UNSER BAYERN, Ausgabe November/Dezember 2021 in der BSZ Nr. 44 vom 5. November 2021
Abbildung:
Das für Nichteinheimische undurchschaubare und bisweilen düstere Gassengewirr in der Bamberger Altstadt mag Symbol dafür gewesen sein, wie die vertraute Welt ins Wanken geraten war. (Foto: Jan Kopp)
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