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Als ältestes topografisches Stadtmodell Deutschlands gilt jenes, das Hans Baier 1540 von Nürnberg fertigte. Es zeigt gut den um jene Zeit erfolgten Bastionenbau um die Nürnberger Burg. (Foto: dpa/Daniel Karmann)

06.05.2019

Hochburg des Weltgeistes

Schon immer in der Mitte Europas, nicht nur geografisch: Warum Nürnberg den Titel „Kulturhauptstadt 2025“ verdient

Nürnberg, Pfingstmontag 1828. Auf dem Unschlittplatz irrt ein junger Mann umher. Er wird zur Polizei gebracht, wo er seinen Namen aufschreibt: Kaspar Hauser. Später nimmt man an, dass er bis zu seiner Auffindung völlig allein in einem kleinen, lichtlosen Raum gelebt habe, ohne jede Kommunikation. Die Nahrung sei ihm verdeckt hereingeschoben worden, ansonsten habe er nur kleine Spielzeugpferdchen wahrgenommen. All das erregte internationales Aufsehen – und beschäftigt ganze Forschergenerationen bis heute.

Dass einzelne, manchmal scheinbar kleine Ereignisse oder Gegenstände, verbunden mit einem Rätsel oder einem tiefgründigen Geheimnis Weltbedeutung gewinnen können, ist wohl ein typisches Kennzeichen der traditionsreichen Freien Reichsstadt Nürnberg. Einen Augenblick lang hatte man beispielsweise im Fall Kaspar Hauser vielleicht die Chance, der Lösung eines der großen Menschheitsrätsel näherzukommen: Was ist angeboren, was ist anerzogen? Die Chance konnte allerdings nicht wirklich genutzt werden, da empirische Gutachten noch nicht entwickelt waren.

Aber gerade in Stadt und Großraum Nürnberg lebten damals Exponenten der Geistesgeschichte, die weltweit als Begründer wissenschaftlich fundierter Forschung in diesem Sinne gelten.

Allen voran ist hier Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu nennen, dessen 200. Geburtstag 2020 international gefeiert wird. Nach seinen beiden Bamberger Jahren wirkte er auf Vermittlung seines Freundes Niethammer 1808 bis 1816 in Nürnberg, unter anderem als Pädagoge. Die in jener Zeit geschaffenen Werke, welche unter anderem den Begriff des „Weltgeistes“ vertieft ausformulierten, sind in ihrer Bedeutung für die Philosophiegeschichte kaum zu überschätzen. In Nürnberg entstand seine „Wissenschaft der Logik“, die dazu beitrug, das wohl letzte große philosophische System nach Platon, Aristoteles und Kant zu errichten.

Sein Zeitgenosse Paul Anselm von Feuerbach, der einst ebenfalls mit Friedrich Immanuel Niethammer verkehrte, lebte wie Hegel erst in Bamberg und ab 1817 in Ansbach. Nachdem Kaspar Hauser aufgetaucht war, suchte er ihn in Nürnberg auf, um ihn schließlich an seinem Dienstort zu betreuen. Der für die Rechtsgeschichte maßgebliche Jurist erdachte in seinem 1832 erschienen Werk über Kaspar Hauser Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen eine ganz neuartige Psychologie, die – über Sigmund Freud – noch 1950 bei Alexander Mitscherlich ihre Nachwirkungen hatte. Auf dem Nürnberger Johannisfriedhof liegt – neben vielen anderen bedeutenden Persönlichkeiten – sein berühmter Sohn Ludwig Feuerbach, ein Verehrer Hegels, begraben, der auf seine Weise der empirischen Wissenschaft den Weg ebnete, indem er, im Grunde ebenfalls psychologisch gedacht, illusionäre Gottesbilder des Christentums systematisch kritisierte.

In der Mitte des Reichs

Warum haben sich gerade in Nürnberg diese Epoche machenden Träger derIdeengeschichte so schöpferisch entfalten können? Liegt es an den internationalen Handelsbeziehungen und dem damit verbundenen kulturellen Austausch, der hier spätestens seit dem Mittelalter begann? Schon um 1000 lag Nürnberg in der Mitte des Heiligen Römischen Reiches an bedeutenden Altstraßen. Auch aus heutiger Sicht erhebt sich die Stadt nicht weit vom geografischen Mittelpunkt Europas entfernt. Über die traditionsreichen Ost-West-Verbindungen schreibt Staatsarchivar Peter Fleischmann: „Von Böhmen bis nach Luxemburg erstreckte sich ein Landkorridor, in dessen Mitte Nürnberg gleichsam als böhmische Hauptstadt lag.“

Ganz wenige Städtenamen tauchen selbst in kurzen historischen Darstellungen der deutschen Geschichte so oft auf wie derjenige Nürnbergs.  Die Stadt prägte das Bewusstsein der Völker im Zentrum Europas mit, und nach dem Historiker Herfried Münkler gehört der Schatz ihrer Traditionen sogar zu den herausragenden „Mythen der Deutschen“.

Ein besonderer, weithin sichtbarer und allgemein bekannter Mythos ist unbestreitbar die Burg. Sie lässt sich, historisch gesehen, in drei Teile gliedern: Die Kaiserburg, die der Reichsstadt und die der Grafen. Die Kaiserburg war die Burg der großen deutschen Kaiser schlechthin, denn von Barbarossa über Friedrich II. bis Karl IV. ist jeder von ihnen mit Nürnberg eng verbunden. Alle deutschen Regenten bis 1571 sollen auf der 1050 erstmals urkundlich erwähnten Feste Station gemacht haben. Sie ist sogar über amüsante Legenden in Kinderspiele eingegangen. Wenn die Kleinen mit ihren Bauklötzchen eine Ritterburg bauen, dann liest man ihnen gern die Geschichte vom Raubritter Eppelein von Gailingen vor, der erhängt werden sollte, sich aber, so die Sage, durch einen waghalsigen Sprung zu Pferde in den umgebenden Graben retten konnte.

Mit anderen Schätzen, im Verhältnis zu ihrer einzigartigen Bedeutung relativ klein, ließ man Kinder allenfalls ausnahmsweise spielen: mit den Reichskleinodien. Das konnte man nur dann nicht vermeiden, wenn die gekrönten Häupter noch recht jung waren, wie Otto III., der mit drei Jahren 983 zum deutschen König gewählt wurde. Die Reichskleinodien wurden über Jahrhunderte, von 1423 bis 1796, im Nürnberger Heilig-Geist-Spital aufbewahrt. Krone, Reichsapfel und Heilige Lanze zählten zu den Symbolen der Macht über ein Reich, in dem zeitweise „die Sonne nie unterging“, wie dasjenige Karls V., das sich von Europa bis nach Amerika erstreckte. 1532 schloss Kaiser Karl – der damals regierende Antipode Luthers – in Nürnberg einen ersten Religionsfrieden zwischen Katholiken und Protestanten, ohne die kirchenspaltende Tendenz des Reformators aufhalten zu können.

Nürnberger „Erdapfel“

Angesichts der Anwesenheit von Herrschern über zahlreiche Länder ist es kein Wunder, dass der erste Globus, spielerisch „Erdapfel“ genannt, 1493 in Nürnberg entstand und im dortigen Germanischen Nationalmuseum zu besichtigen ist. „Die Zeit gleicht einer Kugel, die auf einem Punkte gleichsam laufet und noch das Vergangene noch das Zukünftige ist“, schrieb Georg Philipp Harsdörffer 1650, wie Johann Klaj Mitglied des Nürnberger Dichterkreises der „Pegnitzschäfer“, einer Runde von Protagonisten barocker Weltliteratur. Sie gaben eine zumindest poetische Antwort auf das Rätsel der „Zeit“.

Eine weitere Kleinigkeit, vom materiellen Umfang her betrachtet, aber wiederum von höchster historischer Bedeutung, ist die „Goldene Bulle“: Ein etwa Handteller großes, goldenes Siegel hängt an jener Urkunde, deren erster Teil auf dem Nürnberger Reichstag 1356 beschlossen wurde. Darin wird der Modus der deutschen Königswahl durch sieben Kurfürsten und Nürnberg als Ort des ersten, anschließend abzuhaltenden Reichstags festgelegt.

Mit den Kurfürsten war Nürnberg später eng verbunden, da Ende des 12. Jahrhunderts Friedrich I. aus dem Geschlecht der Zollern als Burggraf eingesetzt wurde. Einer seiner Nachfahren wird 1417 mit der Kurmark Brandenburg belehnt – und beeinflusst über sein Herrschergeschlecht in den folgenden Jahrhunderten wesentlich die Geschichte Preußens und des Deutschen Reichs. Noch als Könige in Preußen führen die Brandenburger „immer auch den ursprünglichen Titel ‚Burggrafen von Nürnberg’“, schreibt Peter Fleischmann.

In der erwähnten Zeit Karls V. steckte Nürnberg wiederum einige Glanzlichter auf die Krone des Weltgeistes auf, insbesondere in der Kunst. Adam Kraft etwa schuf um 1495 das Sakramentshaus in der Sankt-Lorenz-Kirche, unter dessen feingliedrigen, fast manieristischen Strebepfleilern er sich selbst verewigte. Man könnte meinen, die äußerst kunstvoll gesetzten Stäbchen aus Stein würden bei Berührung zusammenfallen wie die Häuschen aus Bleistiften, die Kinder sich bauen, oder das Kartenhaus, das sich die Herrschenden errichten, um ihre Macht zu sichern. Aber sie halten nun schon ein halbes Jahrtausend. Die ganze Kirche ist solch ein Wunderwerk - man denke nur an die Westrose, eine der schönsten Fensterrosen Europas, genannt das „Rad von Sankt Lorenz“, weil sie sich bei längerem Hinsehen wie ein Kreisel unaufhörlich zu drehen scheint. Ein minimal pendelndes Pendant dazu ist der im Chor aufgehängte, ebenfalls fast kreisförmige „Englische Gruß“ von Veit Stoß, der dieses Hauptmotiv der europäischen Kunst faszinierend formuliert.

Die vielen spätgotischen Tafelgemälde in Sankt Lorenz, Sankt Sebald, der Frauenkirche und anderen Nürnberger Gotteshäusern finden ihren Höhepunkt bei einem der überragenden Meister der Kunstgeschichte: Albrecht Dürer. Am 12. Juli 1520 – also im kommenden Jahr wieder ein Anlass für ein Jubiläum – brach er von seiner Heimatstadt Nürnberg aus in die Niederlande auf, wo er hoch geehrt wurde. Seine Werke sind heute in den bedeutendsten Museen der Welt zu sehen – in mehr Ländern als in den von Karl V. beherrschten... (Andreas Reuß)

Lesen Sie den vollständigen, reich bebilderten Beitrag in der Mai/Juni-Ausgabe von UNSER BAYERN, die der BSZ Nr. 18 vom 3. Mai 2019 beiliegt.

Abbildungen:

Wehrhaft überthront bis heute die Nürnberger Burg das Stadtbild. (Foto: Congress- und Tourismus-Zentrale Nürnberg/Ralf Schedlbauer)

Nürnbergs Heilig-Geist-Spital war der sichere Ort für die Reichskleinodien. (Foto: dpa/Daniel Karmann)

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