Wirtschaft

Der Mittelstand gilt als Rückgrat der Wirtschaft. (Foto: Bilderbox)

10.11.2023

"Bayern hat dem Mittelstand viel zu verdanken"

Achim von Michel, Landesbeauftragter für Politik in Bayern beim Verband „Der Mittelstand, BVMW“, über die Erwartungen an die neue Staatsregierung

Der Mittelstand gilt landläufig als Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Doch trotz anders lautender Lippenbekenntnisse fühlen sich die Mittelständler zunehmend von der Politik vernachlässigt. Dabei sind gerade sie es, die für Innovationen sorgen.

BSZ: Herr von Michel, wie bewerten Sie die aktuelle Situation der Mittelständler in Bayern?
Achim von Michel: Die bayerische Wirtschaft hatte in den letzten Jahren so manche Krise zu bewältigen. Einmal mehr hat vor allem der Mittelstand dazu beigetragen, dass der Freistaat noch immer wirtschaftlich resilient aufgestellt ist. Beim BIP rangiert er knapp hinter NRW auf Platz zwei, hat aber im vergangenen Jahr ein doppelt so starkes Wachstum hingelegt. Damit mittelständische Unternehmerinnen und Unternehmer in Bayern weiterhin erfolgreich zu einer stabilen Wirtschaft beitragen können, brauchen sie auch in der nächsten Legislaturperiode eine konsequente Unterstützung von der Landesregierung. Tatkräftiges politisches Handeln ist vor allem bei der Abschaffung von bürokratischen Hürden, dem Voranbringen der Energiewende, dem Fachkräftemangel und der Rückzahlung der Corona-Soforthilfen dringend nötig.

BSZ: Müsste man nicht endlich tatkräftig die hemmende Bürokratie endlich abbauen?
Von Michel: Lange und aufwendige Verwaltungsprozesse verlangsamen hierzulande viel Fortschritt und verschwenden Ressourcen. Digitale Lösungen in der Verwaltung könnten viel Zeit ersparen – vor in allem kleinen und mittelständischen Unternehmen, die weniger Kapazitäten für die Bewältigung von Verwaltungsaufwand haben. In einigen Bereichen hat die Politik bereits gehandelt, beispielsweise bei der Fahrzeugzulassung. Aber auch Bauanträge müssen endlich digital übermittelt und weiter verwaltet werden können, und viele weitere Serviceleistungen von Städten und Kommunen lassen sich ebenfalls effizienter digital abbilden. Der Mittelstand begrüßt darum ein schnelles Voranschreiten in der digitalen Entwicklung Bayerns und fordert natürlich auch den weiteren Ausbau einer zeitgemäßen, leistungsfähigen Netzinfrastruktur. Die „Vorfahrt für Mobilfunk und Highspeed-Internet“, wie sie Ministerpräsident Söder im vergangenen Jahr angekündigt hat, muss dabei auch weiterhin das Handeln bestimmen.

BSZ: Wie ist der Freistaat bei der Energiewende aufgestellt?
Von Michel: Eine klare Gefahr liegt in der Tendenz, dass Bayern bei den erneuerbaren Energien zunehmend abgehängt wird. So entsteht ein immer größerer Standortnachteil, der sich langfristig negativ auf die bayerische Wirtschaft auswirkt. Die Staatsregierung muss daher dringend Maßnahmen ergreifen, um diesen Rückstand aufzuholen! Wir dürfen uns nicht auf das ferne Versprechen eines Energietransfers vom Norden in den Süden verlassen, sondern müssen in puncto Energieversorgung einen möglichst unabhängigen Freistaat schaffen. Das ist eine Herkulesaufgabe, aber sie muss bewältigt werden. Der Klimawandel ist unzweifelhaft die wichtigste Herausforderung der nächsten Jahrzehnte, deren Bewältigung die Grundlage für ein Leben unter erträglichen Bedingungen und unseren Wohlstand darstellt.

BSZ: Wie kann die neue Staatsregierung helfen, den Fachkräftemangel zu bekämpfen?
Von Michel: Ohne geeignete Fachkräfte bringen uns aber weder digitale Lösungen noch Klimaschutz in der Wirtschaft voran. Innovation und Wachstum gelingen nur mit klugen Köpfen und fleißigen Händen. Fachkräfte sind also essenziell, aber in dieser Zeit rar gesät. Traurige Realität: Von den im Jahr 2015 aufgenommenen Flüchtlingen gehen Stand heute weniger als 50 Prozent einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nach. Die Regierung muss deshalb dringend dafür sorgen, dass ausländische Bildungsabschlüsse und Berufsqualifikationen schnell und unbürokratisch anerkannt werden. Die Anerkennung solcher Nachweise liegt klar in der Kompetenz der Länder, Bayern kann hier also mutig vorangehen und den Mittelstand so durch zusätzliche Fachkräfte aktiv unterstützen. Außerdem muss das Angebot an Weiterbildungs- und Integrationsangeboten für Geflüchtete dringend ausgebaut werden. Ein flächendeckendes Angebot von Sprachkursen wäre ein erster Schritt. Das ist natürlich auch eine Geldfrage, darum sind die im November erneut anstehenden Nachverhandlungen der Länder mit dem Bund zum Thema Flüchtlingsintegration so enorm wichtig. Aber nicht nur ausländische Fachkräfte sind geeignet, dem bestehenden Mangel gegenzusteuern.

BSZ: Was kann man noch tun?
Von Michel: Indem die Erwerbstätigkeit von Frauen zusätzlich gefördert wird, können ebenfalls viele offene Stellen wieder besetzt werden. Hier muss sich die bayerische Regierung noch viel intensiver für eine flächendeckende Kinderbetreuung einsetzen und dazu beitragen, die Versorgungslücke von derzeit rund 60 000 Kita-Plätzen schnell zu schließen.

BSZ: Was erwarten Sie noch von der Politik?
Von Michel: Sie muss klar und verlässlich handeln. Seit Herbst letzten Jahres beschäftigt viele Unternehmen die Rückzahlung der im Jahr 2020 gewährten Corona-Soforthilfen. Die Rückzahlungsforderung an sich und das zugehörige Online-Rückmeldeverfahren sorgen für Verwunderung, Unsicherheit und teilweise auch Existenzangst. Auf die vehemente Kritik, die der Mittelstand daran äußerte, reagierte die bayerische Regierung inzwischen bereits mit einigen Zugeständnissen. So ist das umstrittene Online-Rückmeldeverfahren nicht mehr verpflichtend und die Rückzahlungsfrist wurde um sechs Monate verlängert. Dennoch bleibt festzuhalten, dass diese Hilfen seinerzeit von der Politik nachweislich als nicht rückzahlbare Zuschüsse deklariert wurden und das nachträgliche Abrechnungsverfahren enorme Unstimmigkeiten aufweist. Nun sind auch in Bayern erste Klagen anhängig, denn Unternehmerinnen und Unternehmer bestehen auf fairen, bundesweit einheitlichen Lösungen für alle und vor allem auch auf einem: endlich Klarheit.

BSZ: Wie beurteilen Sie die Wahrnehmung mittelständischer Interessen in der Politik?
Von Michel: Als Mittelstandsverband nehmen wir bei unseren Mitgliedern seit Jahren eine steigende Politikverdrossenheit wahr: Unternehmer und Unternehmerinnen fühlen sich von der Politik oftmals in ihren Anliegen nicht mehr ernst genommen und beklagen eine „Diskussion im politischen Elfenbeinturm“. Egal um welches Politikfeld es sich im Einzelnen handelt: Vor allem wünscht sich der Mittelstand von der Politik ein offenes Ohr, das Ernstnehmen von Problemen und ein konstruktives Miteinander. In diesen herausfordernden Zeiten von Krisen und Krieg ist ein starker Zusammenhalt die Basis für wirtschaftlichen Erfolg und gesellschaftlichen Frieden. Auch die wirtschaftlichen Herausforderungen können wir meistern: Potenzial und Talent haben wir genug in diesem Land – wir müssen es nur richtig nutzen.
(Interview: Ralph Schweinfurth)

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