Die „Osteuropa-Strategie“ von Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) geht nach den Gesprächen mit Russlands Staatspräsident Putin und Ungarns Ministerpräsident Orban weiter. Am gestrigen Donnerstag reiste der Ministerpräsident der Tschechischen Republik, Bohuslav Sobotka, mit einer Regierungs- und Wirtschaftsdelegation für zwei Tage zu Besuch nach München. Viele ungelöste Probleme der Nachbarschaft betreffen vor allem die sechs Grenzbezirke.
Balkanländer nicht allein lassen
Bei diesem Treffen wird es der SPD und den Grünen schwerer fallen, Seehofer mit den gleichen Standard-Vorwürfen anzugreifen: dass er „die Rechtspopulisten hofiert“ und „Frau Merkel in den Rücken fällt“. Als Vorsitzender der sozialdemokratischen Partei (CSSD) ist Ministerpräsident Sobotka in der Flüchtlingspolitik auf einer Linie mit den anderen drei Visegrád-Staaten: Die Balkanroute schließen bis die Außengrenzen der EU gesichert sind, keine Flüchtlinge nach Europa holen, schon gar nicht Moslems, sondern ihnen in den Lagern der Herkunftsregionen helfen. Sobotka: „Wir dürfen die Balkanländer nicht alleinlassen.“
Darin ist die Regierung Tschechiens sich mit der ebenfalls sozialdemokratisch regierten Slowakei wie mit den nationalkonservativen Regierungen in Polen und Ungarn einig. Seit dem Treffen der Präsidenten Vaclav Havel, Lech Walêsa und József Antall 1991 im Schloss von Visegrád (hohe Burg) am Donauknie nahe Budapest, ist die Stadt Namensgeber der Visegrád-Gruppe (V-4), einem Bündnis der vier Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und inzwischen auch Slowakei.
Bayern sorgt für eine Gesprächsbrücke
Durch regelmäßige Konsultationen und Abstimmung von Positionen auf politischer und Arbeitsebene verstärken sie ihr Gewicht in der EU wie der NATO und ergreifen Initiativen zur regionalen Kooperation der Wirtschaft in Mittel- und Südosteuropa. Sie erweitern den Kreis bei ihren Treffen zeitweise um Österreich und Slowenien, mit denen sie in vielem übereinstimmen. Mit der Kontaktpflege seiner „Ost- und Südosteuropa-Strategie“ bildet Bayern daher eine Gesprächsbrücke zur Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa.
Zwischen Tschechien und Bayern gibt es aber weit mehr zu bereden als nur die Flüchtlingspolitik: Von mehr als 800 Kilometern Grenze Tschechiens zu Deutschland verläuft die längste entlang der drei Bezirke Ostbayerns: Oberfranken, Oberpfalz und Niederbayern. Diese gemeinsame Grenze zu den Bezirken Nord-, West- und Südböhmen bringt zum einen mehr Themen der bisher vernachlässigten direkten Nachbarschaft mit sich. Zum anderen besteht aus historischen Gründen insgesamt mehr Nachholbedarf an Zusammenarbeit. Denn die Beziehungen waren wegen der Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem II. Weltkrieg lange Zeit sehr angespannt.
Die Tschechische Republik ist erst 1993 aus der 1918 gegründeten Tschechoslowakei durch einvernehmliche Trennung von der Slowakei als eigener souveräner Staat entstanden. Sie ist EU-Mitglied und sieht ihre Partner mehr in Berlin und Brüssel als in München. Von der Fläche her ist Tschechien wenig größer als Bayern, hat mit knapp elf Millionen aber rund zwei Millionen Einwohner weniger als das wirtschaftlich stärkere deutsche Bundesland Bayern.
Ministerpräsident Seehofer ist es gelungen, bei seinem ersten Besuch in Prag im November 2010 die weitgehende „Sprachlosigkeit“ zwischen München und Prag 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs schrittweise zu beenden. Weitere Reisen nach Tschechien und ein Gegenbesuch des tschechischen Ministerpräsidenten Petr Ne(c)as im Jahr 2013 verliehen den bayerisch-tschechischen Beziehungen auch auf politischer und wirtschaftlicher Ebene neue Dynamik, wie sie in direkten Kontakten auf der kommunalen Ebene bereits bestand. Diese Meilensteine haben die Beziehungen einer Normalisierung der Nachbarschaft näher gebracht.
In Bayern leben über 23.000 Tschechen
Tschechien unterhält in München ein Generalkonsulat und der Freistaat hat seit Dezember 2014 eine eigene Repräsentanz in Prag. Von zirka 54.000 Tschechen in Deutschland leben über 23.000 in Bayern, davon rund 3000 in München; Tausende pendeln täglich zu Arbeitsplätzen in Ostbayern. Bereits im Vorfeld seines München-Besuchs hatte Ministerpräsident Sobotka die „intensiven Beziehungen“ zu Bayern hervorgehoben. Dafür ist der für letzten Juni geplante und zweimal verschobene Staatsbesuch ein deutliches Zeichen.
Der 45-jährige Bohuslav Sobotka war zuvor Finanzminister und ist seit Januar 2014 Ministerpräsident der Tschechischen Republik. Sein Kabinett wurde 2013 als Koalitionsregierung aus der sozialdemokratischen CSSD, der eher populistischen ANO 2011 und der christdemokratischen KDU-CSL gebildet. Zu Sobotkas Delegation gehörten sein Berater Rudolf Jindrák, der Stellvertretende Ministerpräsident für Wissenschaft, Forschung und Innovation, Pavel B(e)lobrádek (KDU-CSL) und der Vize-Minister für Verkehr, Ladislav N(e)mec, dazu Referatsleiter der Ministerien und Manager von großen Unternehmen.
Auf dem Programm standen auch ein Besuch des NS-Dokumentationszentrums in München sowie der Hochschule für Musik und Theater im ehemaligen „Führerbau“, wo erst kürzlich eine Gedenktafel an das „Münchner Abkommen“ von 1938 enthüllt wurde, ferner eine Kranzniederlegung am Denkmal für die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ an der Universität.
Bei Sobotkas Vier-Augen-Gespräch mit Seehofer ist es um Konsequenzen aus dem bisher mageren, aber teuren Ergebnis des EU-Türkei-Gipfels gegangen, um gemeinsame Interessen in Europa und die Weiterentwicklung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Bei den Gesprächen der Delegationen standen die bereits weit fortgeschrittenen Kooperationen von Hochschulen und Forschungsinstituten im Vordergrund. Großes Potenzial für die Zusammenarbeit sieht Tschechiens Regierung nach dem Besuch des Ludwig-Bölkow-Campus in Ottobrunn auch in der Luft- und Raumfahrtsindustrie sowie der Sicherheitstechnologie.
Ein wichtiges Thema der Gespräche war auch der beträchtliche Nachholbedarf bei der grenzüberschreitenden Verkehrsinfrastruktur. Diese ist auch für die ostbayerische Wirtschaft wichtig – vor allem im Bereich Firmengründung, Ausbildung und Fachkräfte. Prag will jetzt die Elektrifizierung und Beschleunigung der Zugverbindungen Prag-München vorantreiben. Die Bezirke beiderseits der Grenze fordern aber ebenfalls mehr durchgehende Eisenbahnverbindungen und den Ausbau von Straßenverbindungen mit mehr Auto-Grenzübergängen.
Der Mangel betrifft vor allem die wirtschaftliche Weiterentwicklung: Der Wert von Bayerns Einfuhren aus Tschechien beträgt über zehn Milliarden Euro, die Ausfuhr nur die Hälfte. Neben großen Konzernen in Bayern sind auch viele mittelständische Unternehmen speziell aus Ostbayern mit Filialen oder Beteiligungen in Tschechien aktiv. Doch die schlechte Verkehrsinfrastruktur ist neben der fehlenden sprachlichen Verständigung nicht nur ein starkes Hindernis für die Wirtschaft, sondern auch für engere Zusammenarbeit der Kommunen und der gesamten Gesellschaft im Grenzgebiet.
Barrieren und Vorurteile in den Köpfen abbauen
In seinem Vorwort zur Halbzeitbilanz des EU-Förderprogramms „Ziel 3“ hat der frühere tschechische Minister für Regionalentwicklung, Kamil Jankovsk, geschrieben: „Das Hauptziel der europäischen Programme ist der Abbau von Barrieren und Vorurteilen in den Köpfen der Menschen beiderseits der Grenze. Sie darf nie wieder eine Wand darstellen, welche zwei Welten trennt. Im Gegenteil, das Grenzgebiet sollte ein einzigartiger Ort sein, an dem sich beide Seiten treffen.“
An diesem schönen Ziel arbeiten viele engagierte Akteure auf regionaler und kommunaler Ebene. In Bayern gibt es drei Landkreispartnerschaften und 83 Gemeindepartnerschaften mit tschechischen Kommunen. Vor allem zwei Euregiones in Ostbayern und die Europaregion Donau Moldau sind Anlaufstellen für grenzüberschreitende Planungen und Projekte zwischen den Nachbarbezirken, aber nur soweit ihre bescheidenen Kompetenzen reichen. Aus historischen wie geografischen Gründen hinken Niederbayern und das bisher mehr Richtung Linz orientierte Südböhmen der Entwicklung im Grenzgebiet nach; es wurde auch seitens der Staatsregierung bei der Verkehrsinfrastruktur benachteiligt: keine durchgehende Eisenbahn oder Autobahn und nur eine Bundesstraße.
Große Chancen im Böhmerwald-Tourismus
„Für zweifellos ausbaufähig“ hält Niederbayerns Bezirkstagspräsident Olaf Heinrich (CSU) „die wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Vernetzungen zwischen Niederbayern und Südböhmen sowie dem Bezirk Pilsen.“ Heimatminister Markus Söder (CSU) hat der Europaregion Donau-Moldau zwei staatlich geförderte Vollzeitstellen in Freyung versprochen: „Netzwerk-Manager“ sollen dafür sorgen, dass europäische Förderprogramme bei den Unternehmen der Region bekannt und die Mittel genutzt werden.
Große Chancen für beide Seiten sieht Heinrich in besserer Zusammenarbeit im Tourismus beiderseits des Böhmerwalds, aber auch bei den Campi für Technologietransfer der niederbayerischen Hochschulen. Heinrich: „Die kooperieren bereits heute in vielen Bereichen mit der Universität Budweis und Hochschuleinrichtungen in Krumau und Prag, sowie mit Unternehmen in der Grenzregion. Aber ich muss zugeben: Auch hier ist noch Luft nach oben!“
(Hannes Burger)
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