EU und Nato rücken enger zusammen und sehen Russland sowie China als Bedrohung. Vor diesem Hintergrund sucht Deutschland einen neuen Umgang mit der Volksrepublik. Der langjährige China-Kenner Holger Magel, emeritierter Professor der TU München und früherer Chef der Ländlichen Entwicklung hat die Volksrepublik in den letzten 35 Jahren regelmäßig besucht und dort gelehrt, beraten, evaluiert sowie vor Ort gearbeitet.
BSZ: Herr Magel, was halten Sie davon, wenn jetzt Wirtschaftsfachleute fordern, Deutschlands Abhängigkeit von China zu reduzieren und andere Regionen mehr in den Fokus des wirtschaftlichen Austauschs zu nehmen?
Holger Magel: Dem stimme ich zu. China macht ja nichts unüberlegt. Es verfügt über von Staatschef XI Jinping verkündete verführerische Philosophien wie „Renaissance der chinesischen Nation“ oder Tian Xia, was bedeutet „Alles unter dem Himmel“ und eine globale Schicksalsgemeinschaft meint – unausgesprochen unter zentraler Mitgestaltung Chinas. Gerade für Entwicklungsländer höchst attraktive Begriffe wie Ökozivilisation sowie Wiederbelebung der ländlichen Gebiete mit Beseitigung der Armut und angemessenem Wohlstand für alle et cetera sowie ein langfristiges Gedächtnis und strategisches Denken – wie das Megaprojekt Neue Seidenstraße zeigt – bringen eindeutig die Volksrepublik zurück auf den Weg zur globalen Führungsmacht, die sie ja schon mal war, und die die internationalen Regeln bestimmen will. Das haben viele Europäer vergessen.
BSZ: Aber gerade die Neue Seidenstraße wurde in Deutschland als große und völkerverbindende Chance angesehen. Man denke nur an die extra installierten Güterzugverbindungen von Peking über die Mongolei und Russland nach Duisburg und Nürnberg.
Magel: Die bisherigen Erfahrungen mit der Seidenstraße zeigen, dass die davon angelockten und erschlossenen Länder in fatale Abhängigkeiten zu China geraten können. Globale Schicksalsgemeinschaft à la chinesische Machart! Kambodscha ist längst in chinesischer Hand wie auch zunehmend Laos und viele andere vor allem zentralasiatische und afrikanische Länder. Mit Sorge blicke ich auch auf Serbien, das doch in die EU will! Ich empfehle hierzu die Lektüre des Buches Die Neuen Seidenstrassen des renommierten Oxfordprofessors Peter Frankopan. Wer die daraus jetzt schon entstandenen Abhängigkeiten im Hinblick auf den künftig möglichen Umgang eines technologisch und wirtschaftlich erstarkten Chinas mit den ausländischen (auch bayerischen) Investoren im eigenen Land nicht sehen will, begeht meines Erachtens einen schweren Fehler. Die SZ spricht schon vom unheimlichen Partner in Fernost. Wenn China dazu in der Lage ist, wird es meines Erachtens ohne Zögern das Feld zu Hause allein übernehmen. Dazu dienen die enormen Anstrengungen in der Wissenschaft und die Modernisierung beziehungsweise Digitalisierung der Wirtschaft und der Infrastruktur. Xi Jinping hat erst kürzlich die berühmtesten Wissenschaftler seines Landes zu olympischen Höchstleistungen aufgerufen!
BSZ: Was raten Sie deutschen Unternehmen?
Magel: Deutsche Firmen brauchen eine Rückfallstrategie. Das bedeutet, wie es nun auch Hubert Aiwanger predigt, weg von zu großer Monostruktur und Abhängigkeit. Entkopplung und regionale Diversifizierung zum Beispiel mit Hinwendung zu bisher vernachlässigten Ländern und Kontinenten wie Afrika, Indien, Südamerika und Zentralasien sind nötig, um dort Märkte zu erschließen und alternative Lieferketten aufzubauen. Aber auch dort ist man in Konkurrenz zu China. Gerade in Afrika hat ja China aus verschiedensten Gründen längst mehr Freunde gewonnen als Europa. Ich bin nicht sicher, ob die sogenannte werteorientierte Entwicklungszusammenarbeitspolitik von Svenja Schulze die afrikanischen Staatschefs zum sofortigen Seitenwechsel verlocken wird. Jedenfalls wird das ein schwieriger Neuanfang für deutsche bisher allein auf China versessene Unternehmen.
"Ich wundere mich"
BSZ: Hat der deutsche Michel wie immer zu lange geschlafen?
Magel: Naja, dass Deutschland so lange gebraucht hat, um China auch als systemischen Rivalen und Wettbewerber – von Bedrohung rede ich, abgesehen vom erneut hochgefährlichen Verhalten beim Corona-Management, noch nicht – zu sehen, darüber wundere ich mich schon. Wer etwas globales Interesse aufbringt, konnte das voraussehen. Meine afrikanischen und südostasiatischen Masterstudenten an der TUM haben mir schon früh vom chinesischen Zugriff auf Ihre Länder und ihr Land (Land Grabbing) et cetera berichtet. Das Problem sind wohl einige Wirtschaftsvertreter, die in China arbeiten und da manches zu rosig gesehen haben. Außerdem waren sie ja gesichert durch die Bürgschaften der Bundesregierung. Da will man manche Zeichen nicht wahrnehmen oder wahrhaben.
BSZ: Das heißt?
Magel: Viele Ausländer agieren in China eher isoliert in einer Blase – fern vom chinesischen Alltag einerseits und dem großen Politik- und Parteigeschehen andererseits. Ein Verständnis für die Chinesen und deren nationalen Traum von Wiedergewinnung einstiger Größe und Tilgung der durch die Europäer erlittenen Schmach im 19. Jahrhundert kommt so nicht auf. Wer in der deutschen Wirtschaft, geschweige denn wer von den in China arbeitenden deutschen Ingenieuren beschäftigt sich wirklich intensiv mit den aktuellen chinesischen Philosophien und Dokumenten der Parteitage oder einflussreichen chinesischen Akademien und Parteihochschulen, die den ideologischen Hintergrund des wachsenden Hegemonieanspruchs bilden? Sie müssten eigentlich nur die Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) befragen, die als eine der zu wenigen China-Kompetenzzentren in Deutschland eine Menge davon versteht. Ich glaube, dass man zu oft darauf verzichtet hat herauszubekommen, wie die Chinesen wirklich ticken.
BSZ: Aber Sie wissen, wie sie ticken?
Magel: Wissen ist mir zu hoch gegriffen, aber zumindest habe ich eine Ahnung oder ein Gefühl bekommen bei der jahrzehntelangen Zusammenarbeit in Workshops, in denen wir Leitbilder entwickelt oder über Flächensparen beim Wege- und Siedlungsbau diskutiert oder – ganz heißes Thema – offen über das Schleifen von Dörfern geredet haben, wo dann plötzlich aus dem Innersten der Chinesen Angst und Skepsis gegen die amtlich verfügte Beseitigung der bisherigen Heimat deutlich wurden. In solchen Momenten war ich den Menschen sehr nahe. Die Spannweite meiner diesbezüglichen Erfahrungen ist recht groß: sie reicht von der Dorfebene und Zusammenarbeit mit einfachen Bauern, Schulkindern, Lehrern und Handwerkern über Bürgermeister, Parteisekretäre unterschiedlicher Ebenen, Planer, Unternehmer, Dorf-, Stadt- und Ministerialbeamte, Akademie- und Universitätsprofessoren sowie deren Dekane, Studenten und Doktoranden in China und an der TUM, Journalisten bis hin zu Vizeministern und Gouverneuren.
"Ich sehe schon noch Respekt"
BSZ: Wie oft und wie lange waren Sie in China?
Magel: Das erste Mal war ich 1987 in Peking im Hauptamt für Geodäsie als Dozent zu Vorlesungen über Flurbereinigung und Dorferneuerung. Nach wohl mehr als 30 Arbeitseinsätzen war ich zuletzt 2019 dort – vor Ausbruch von Corona – zu den 30-Jahre-Jubiläumsfeiern der aus unserer Zusammenarbeit resultierenden zwei „Kinder“: des bayerisch-chinesischen Pilotprojekts Dorf- und Landentwicklung Nan Zhang Lou (NZL) und seines Zwillings, der landwirtschaftlichen Berufsschule Pingdu, beide in der bayerischen Partnerprovinz Shandong gelegen und von Anbeginn von der bayerischen Staatsregierung gewollt und von der HSS getragen und gemanagt. Beide Jubiläen waren mit internationalen Konferenzen mit Referenten und Teilnehmern aus der „Region“, also Japan, Philippinen, Nord- und Südkorea, Myanmar, Thailand, Kambodscha, Laos und Vietnam verbunden – beide Male war ich wie schon in den Jahren zuvor sowie bei den ebenfalls von uns völlig neu eingeführten akademischen Summer Schools mit der Renmin Universität Peking Konferenzdirektor und Keynote-Redner.
BSZ: Wie sehen uns die Chinesen? Sind wir gar nur nützliche Narren für sie auf dem Weg zur Macht?
Magel: Das hängt wohl vom Gegenüber ab. Im akademischen Bereich sehe ich schon noch Respekt. In den ideologisch dauerbeeinflußten Beamten- und Funktionärskadern ist dies – allerdings noch verdeckt – möglicherweise nicht mehr so positiv. Mich irritiert jedenfalls sehr, wenn nun Äußerungen fallen wie der Westen sei dekadent, seine Zukunft sei vorbei, die allein den autokratisch straff geführten und deshalb ökonomisch und technologisch so effizienten Regimen wie China gehöre. Unübersehbar geriert sich China laut Andreas Reckwitz zunehmend als Gegenspieler des schwachen Westens!
BSZ: Ist der Westen wirklich so schwach?
Magel: Leider tragen wir ja selbst zu dieser Meinungsbildung bei. Wir liefern China für sein riesiges Land ein Zugsystem, das dort mit höchster Pünktlichkeit und überdies Komfort betrieben wird. Andererseits bekommt man in China natürlich mit, dass wir es in Deutschland nicht schaffen, das gleiche Zugsystem pünktlich zu betreiben. Und dass wir ewig brauchen, um Neubauten zu realisieren, wie man am Berliner Flughafen, an Stuttgart 21 und nun an der zweiten Münchner Stammstrecke sieht. Und dass unsere Demokratie von einer überbordenden Bürokratie gelähmt wird. Für China erscheint folglich Autokratie als attraktiver und effizienter.
"Familien und Wohlstand sind wichtiger"
BSZ: Doch diese Autokratie bedeutet totale Überwachung.
Magel: Das stört uns, aber nicht die Chinesen. Für sie sind Familie und Wohlstand wichtiger. Lesen Sie zum Beispiel Andre Malrauxs Gespräche mit Mao und Tschou Enlai. Dort schon wird erklärt, dass der Chinese anders denkt als wir im Westen.
BSZ: Was sehen Sie bei deutschen Unternehmen noch kritisch, wenn Sie sich in China engagieren?
Magel: Dass bis heute nicht klar kommuniziert wird, ob sie neben den vermeldeten Rekordzahlen zum Beispiel in der Autoproduktion in China erwirtschaftete Gewinne überhaupt mit nach Deutschland nehmen können, um in der Heimat Arbeitsplätze zu sichern. Da gibt es unterschiedliche Aussagen seitens des Mercator Institute for China Studies (MERICS) aus Berlin und seitens der Unternehmen. Offensichtlich ist das eine wenig transparente Angelegenheit. Die Beispiele sind laut Chinaexperten von MERICS selten, wo einem deutschen Unternehmen das gelungen ist.
BSZ: Sprich, das China-Engagement der deutschen Wirtschaft lohnt sich nur, weil dort billiger produziert werden kann.
Magel: Ja, aber dieser Vorteil des überdies riesigen Marktes schwindet. Denn Chinas Lohnniveau steigt. Das ist logisch, weil sich ja immer mehr Wohlstand in der Volksrepublik ausbreitet. Und da kommt wieder das chinesische Ziel ins Spiel, die Abhängigkeiten vom Ausland zu verringern. Sie wollen ihren gigantischen Markt und Binnenkonsum mit über 1,4 Milliarden Verbrauchern letztlich selbst beherrschen. China ist mittel-, zumindest langfristig für uns kein Goldesel mehr.
"China beeinflussen"
BSZ: Also raus aus China?
Magel: Nein, dann geben wir ja viele gewachsene Netzwerke und Mitgestaltungsmöglichkeiten auf. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir – jetzt nehme ich wieder mein Fachgebiet – China ja auch beeinflussen in Sachen nachhaltige ländliche Entwicklung, Umweltschutz, Ökologie oder ganzheitliche partizipative Planungskultur, was wieder Auswirkung auf die Nachbarregionen hat. Wenn China den ländlichen Raum stärkt und mehr tut für Klima- und Umweltschutz, profitiert die ganze Welt davon. Da stimmt der Satz von der globalen Schicksalsgemeinschaft!
BSZ: Das bedeutet?
Magel: Wir müssen weiter vor Ort agieren und lehren. Ich plädiere im Fall der deutschen, stark chinaabhängigen Unternehmen, die Einseitigkeit und Ausschließlichkeit zu reduzieren. Ich kann von außen nicht nachvollziehen, warum große Unternehmen wie BASF sogar noch weiter expandieren wollen. Was machen die denn, wenn aus der ziemlich eindeutigen Nato-EU-Feststellung, China sei eine Bedrohung, wirklich Ernsteres folgt?! Es genügt ja schon ein besorgter Aktionär zu sein, um mir eine Diversifizierungs- oder gar Exitstrategie zu überlegen. Dann ergibt sich automatisch der Druck für alle Verantwortlichen, zum Beispiel Freihandelsabkommen mit dem allerdings auch nicht einfachen Indien oder mit den USA und Südamerika zu schließen und dabei natürlich Umweltstandards und allgemein akzeptierte und nicht allein eurozentrierte Standards einzuhalten.
BSZ: Und wie sieht die deutsch-chinesische Zukunft aus?
Magel: Deutschland und China müssen im Dialog bleiben – alles andere wäre absoluter Unsinn. Sie müssen auf vielen Feldern weiterhin zusammenarbeiten bis hin zu globalen, vor allem Umweltthemen. Wobei ich mir mehr deutsch-chinesische Zusammenarbeit in unserem „Schicksalskontinent“ Afrika wünsche, wie es Ex-Bundesentwicklungsminister Gerd Müller von der CSU im Sinn hatte. Er wollte die hochangesehene duale Berufsbildung in Pingdu auch in Afrika anwenden.
"Riesengroße Herausforderungen"
BSZ: Was hätte das gebracht?
Magel: Dieser Kontinent steht vor riesengroßen Herausforderungen. Das ist auch der Grund, warum sich meine TUM nun voll auf Afrika konzentriert. Den Menschen dort muss eine bessere Zukunft vor Ort ermöglicht werden. Die Flucht nach Europa kann keine Option sein. Doch dazu sollte auch die deutsche Entwicklungspolitik mehr in Richtung ganzheitliche und vernetzte Entwicklungen anstelle zu vieler oft unkoordinierter Einzelprojekte gelenkt werden. Und sie und viele andere Akteure sollten versuchen mit den Chinesen zusammenarbeiten – in unserem Interesse. Denn wir sind von der Migration betroffen, nicht China.
BSZ: Was machen die Chinesen in Afrika besser?
Magel: Die Chinesen haben eine robuste Vorgangsweise. Sie bauen in Afrika ohne große Demokratiediskussionen heiß begehrte und dringend nötige Infrastruktur mit ihren eigenen Leuten auf und lassen sich das durch Rohstoffe und Landnutzung bezahlen. Daneben bieten sie großzügigst Kredite, die politisch virtuos gehandhabt werden. Das wird oft kritisiert, vor allem bei uns, aber es festigt dennoch den Einfluss Chinas. Niemand in Afrika spricht von der Kolonialisierung durch China, aber die europäische Kolonialisierung ist immer noch ein Thema – auch die die afrikanische Landwirtschaft benachteiligende europäische Agrarpolitik.
BSZ: Zurück zum Thema Zukunft: Wie soll Deutschland mit China umgehen?
Magel: Wir müssen wieder mehr auf eigene Sicherheitsinteressen, gerade in der Forschung und bei Patenten achten – und manche Blauäugigkeit oder gar Naivität ablegen. Nach Bekanntwerden unangenehmer Vorfälle titelte die Deutsche Universitätszeitung, die über 100-jährige deutsch-chinesische Zusammenarbeit auf akademischem Gebiet habe ihre Unschuld verloren. Aber das macht meines Erachtens gar nichts. Ich muss halt künftig noch genauer wissen, mit wem ich zusammenarbeite und was ich gerne teilen oder weitergeben kann zum Wohle der Menschen in China oder gar der ganzen Welt. Oder was ich fürs eigene Geschäft eher für mich behalte. Allianz-Chef Oliver Bäte hat es kürzlich so formuliert: „Noch viel stärker darauf achten, dass unser Know-how nicht abgesaugt wird“. Dann kann ich weiterhin mit mir im Reinen mit China kooperieren.
(Interview: Ralph Schweinfurth)
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