Wirtschaft

15.10.2010

Kaum noch Glasbläser im Bayerwald

Ein Jahr nach der Schließung des Nachtmann-Kristallglaswerks in Riedlhütte

Der Glaser schneidet Fensterglas zu oder rahmt Bilder hinter Glas. „Gloserer“ dagegen nennen sich die Facharbeiter der Glashütten im Bayerischen Wald selbst. Das sind Glasmacher, die in rund 800 Jahre alter Tradition Glas schmelzen, blasen, formen und auf vielfältige Weise polieren, schleifen, gravieren oder künstlerisch bearbeiten. Sie haben immer gut verdient und waren einmal eine stolze Zunft mit einem eigenen „Gloserer-Lied“. Das haben letztes Jahr im Herbst mit rund 300 Glasarbeitern aus den Landkreisen Freyung-Grafenau und Regen in der Staatskanzlei in München mit großer Laut- und Gefühlsstärke für Ministerpräsident Seehofer gesungen. Der Bayer fragt gern: Und – hat’s was gholfa?
„Buch der Solidarität“
für den Ministerpräsidenten

Der Anlass dafür war, dass von der Glasfirma Riedl aus Kufstein das aufgekaufte Nachtmann-Kristallglaswerk in Riedlhütte bei Grafenau geschlossen wurde. So wie einige Jahre zuvor die ebenfalls berühmte Nachtmann-Glashütte im Nachbarort Spiegelau. Aus Protest haben die „Gloserer“ dem Ministerpräsidenten ein „Buch der Solidarität“ mit 5000 Unterschriften überreicht, das recht billig zustande kam, weil sich darin niemand zu etwas verpflichtete. Horst Seehofer (CSU) hat seine Hilfe zugesagt, „alle Türen und Fördertöpfe“ dafür zu öffnen.
Die Schließung des Werks konnte er freilich ebenso wenig verhindern wie Wirtschaftsminister Martin Zeil (FDP), weil Eigentümer Riedl gar nicht mehr verhandelt hat. Zuvor hatte sich Minister Zeil den Zorn der Gloserer und Kommunalpolitiker zugezogen, weil er sich spät eingeschaltet und gleich verkündet hatte, die Schließung sei „unabdingbar“. Das Solidaritätsbuch hat ebenso wenig geholfen wie das Lied der Gloserer. Deren Anführer saßen ja am „Runden Tisch“ um Seehofer: der Landrat von Freyung-Grafenau, vier Bürgermeister, der Vorsitzende des Betriebsrats und der gschaftelnde Vorsitzende der Werbegemeinschaft von St. Oswald-Riedlhütte. Letzterer trug zwei „Ideen“ vor: 1. Der Staat solle ein „Gläsernes Bad“ auf Dauer subventionieren; 2. „Die Politik soll sich raushalten!“ Die anwesenden Abgeordneten Barthl Kalb (CSU-MdB), Helmuth Brunner (CSU-MdL) und Alexander Muthmann (FW-MdL) sahen sich damit praktisch als überflüssigen. Sonst hatte keiner eine Idee oder ein Konzept, wie Staatshilfe oder Ersatz – etwa im Tourismus – für diesen Teil der Glasregion aussehen sollten.
In der „Botschaft Niederbayerns“ im Münchner Westpark trafen sich später die Minister Zeil und Brunner samt Fachbeamten mit Landrat Ludwig Lankl (CSU) vom Landkreis Freyung-Grafenau und rund 25 seiner Bürgermeister aus allen Parteien. Die Kommunalpolitiker des Landkreises kamen auch da unvorbereitet und forderten nur mehr Förderung für alles, aber nichts Konkretes außer Breitbandanschlüssen. Damit sind trotz Protestaktionen, Solidarität und politischer Hilfezusagen im Landkreis Freyung-Grafenau die letzten Glasschmelzöfen erloschen. Von den ehemals 900 Mitarbeitern des Bleikristallglaswerks Riedlhütte wurden die letzten 250 noch verbliebenen Arbeitnehmer arbeitslos; einige kamen anderswo unter, viele nicht oder sind in Umschulungsmaßnahmen.
Die Gemeinde St. Oswald-Riedlhütte hat gut 3000 Einwohner und davon über 700 Pendler. „Die älteren Pendler bleiben da, weil sie meist Haus und Grund hier haben und sehr an ihrer Heimat hängen“, sagt Bürgermeister Helmut Vogl (FW): „Aber die jungen Leute, die anderswo einen Arbeitsplatz gefunden haben, pendeln nicht lange, sondern ziehen dahin, wo sie arbeiten.“ Die Fabrikschließung hat somit auch die demografische Entwicklung beschleunigt: weniger Arbeitskräfte, weniger junge Familien und Kinder, weniger Kaufkraft und Steuereinnahmen, sinkende Immobilienwerte – und Zwang zu immer größeren Schulverbünden.
Im Strukturwandel ist hier Glas zu Bruch gegangen und hat Scherben hinterlassen. Der Landkreis Freyung-Grafenau ist heute nur mehr eine historische Glasregion. Die von Riedl verlassenen Glashütten will auch weder eine Kommune noch eine Firma kaufen, weil alle Probleme mit der Entsorgung der Fabrik befürchten. Wissenschaftsminister Heubisch hat auf Drängen von FDP-Kollege Zeil als Ersatz eine Forschungsstelle für Heißglas-Technologie in Spiegelau als Außenstelle der FH Deggendorf genehmigt – mit 5 Millionen Euro für 5 Jahre. Ob es gelingt, damit die Glastradition hier wieder-zubeleben, ist noch fraglich: Die Gemeinde hat noch keinen genehmigungsfähigen Haushalt, soll aber jährlich 150 000 Euro für die Forschungsstelle aufbringen, für die erst noch ein Gebäude errichtet werden muss. Der Landkreis muss zusätzlich zum Technologie-Transferzentrum in Freyung nochmals 450 000 Euro pro Jahr für Spiegelau aufbringen. Eigentlich sollte schon heuer mit der Forschung begonnen werden.
Landrat hält die Schmelzöfen am Glühen
Im Nachbarlandkreis Regen hat dagegen Landrat Heinz Wölfl (CSU) die Schmelzöfen der Glashütten mit einem neuen Netzwerk Glas am Glühen gehalten. Daran beteiligen sich bisher 11 namhafte Glashütten und Firmen, die Glas schmelzen und formen, es als Rohprodukt industriell weiter bearbeiten oder auch künstlerisch gestalten. Immerhin haben die traditionsreichen Glashütten in Frauenau, Zwiesel, Bodenmais, Arnbruck und Ludwigsthal in der Glaskrise Strukturen und die Produkte dem Markt angepasst. Nachdem die Bundesregierung nun zugestimmt hat, das Glas-Netzwerk über ein Förderprogramm mitzufinanzieren, wird jetzt ein Manager gesucht für die Koordinierung und das gemeinsame Marketing. Eine weitere Idee wird in Frauenau umgesetzt: Dort entstehen um das Glasmuseum herum im ganzen Ort bis Ende Oktober „Gläserne Gärten“ mit Großplastiken, die 20 Glaskünstler aus ganz Europa gestalten.
Bürgermeister Vogl, FW-Kom-munalpolitiker wie sein Kollege Josef Luksch in Spiegelau, kritisierte in der Lokalzeitung, dass ein Jahr lang nichts passiert sei. Er räumt aber immerhin ein, dass Spiegelau eine FH-Außenstelle und Grafenau eine Tourismusschule bekomme. Wirtschaftsminister Zeil habe die Region auch mit Invest in Bavaria voll unterstützt. Vogl: „Für die Ansiedlung von neuen Gewerbebetrieben bräuchten die Firmen aber ein Zuckerl. Zum Beispiel 35 statt 25 Prozent Wirtschaftsförderung oder 5 Jahre keine Gewerbesteuer und den Ersatz vom Staat.“ Das einzige neue konkrete Tourismusprojekt in der Nationalparkgemeinde ist ein Fünf-Sterne-Campingplatz, der etwa 30 Arbeitsplätze bringen würde. „Die Gemeinde hat Anschlüsse gebaut und eine Stromleitung verlegt“, berichtet Vogl, „aber der Investor hat das Projekt wegen der Wirtschaftskrise vorerst bis 2011 auf Eis gelegt.“
Im September hatte Zettl, der Vorsitzende der Werbegemeinschaft, Seehofer aufgefordert, zu einem neuen „Runden Tisch“ nach Riedlhütte zu kommen und außerdem bayernweit einen „Tag der Solidarität“ abzuhalten. Der Ministerpräsident ließ ihm aus der Staatskanzlei von Minister Siegfried Schneider absagen. Der Staat könne keine Arbeitsplätze schaffen und Investoren bekämen in dieser Region den Höchstsatz der Regionalförderung. Scheider: „Strukturwandel ist ein längerfristiger Auftrag.“ (Hannes Burger)

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