Um die bundesweit etwa 100.000 Sozialimmobilien mit Strom und Wärmeenergie zu versorgen, werden jährlich bis zu 14 Millionen Tonnen Kohlendioxid (CO2) in die Luft geblasen und volkswirtschaftliche Kosten von fast zehn Milliarden Euro verursacht: Das hat eine Forschergruppe der Katholischen Universität Eichstätt (KU) berechnet. Deshalb sei „die Sozial- und Gesundheitswirtschaft bei der CO2-Reduktion ein schlafender Riese“ - eine Selbsterkenntnis, die einer aktuellen Veröffentlichung der KU-Gruppe mit Akteuren der Branche zu entnehmen ist, und die Jürgen Zerth erläutert. Er ist neuer Inhaber der Professur für Management in Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens an der KU.
Doch die Teilnehmenden der Arbeitsgruppe – neben Wissenschaftler*innen kamen die von der Diakonie über die Johanniter Unfallhilfe bis hin zu kirchlichen Banken und Kapitalverwaltungsgesellschaften – haben nicht philosophiert oder nur gebetet: In einem 24-Seiten-Papier haben sie lieber „Vier Schritte zur Emissionsfreien Gesundheits- und Sozialwirtschaft im Bereich der Sozialimmobilien“ festgelegt.
Diese vier innovativen Lösungsvorschläge – genannt: Umsetzungsschritte – wurden nun veröffentlicht. Aber die bilden nur das im Wortsinn einseitige Ende des Papiers. Denn zuvor beschreiben die Autor*innen die „Barrieren und Lösungswege im heutigen Handlungsrahmen“, oder wie es die Pressestelle der KU formuliert: „Die Beteiligten zeigen die Hürden eines nachhaltigen Wandels auf.“
Die größte Frage lautet: Wie lässt sich eine emissionsfreie Sozialwirtschaft finanzieren? Insgesamt drei Säulen sehen die Autoren dafür. Zum einen ist die „Nachhaltigkeit als operationalisierbares Wirtschaftlichkeitsziel im Sozialgesetzbuch“ festgeschrieben. Zum zweiten könnte die „Finanzierung über sozialwirtschaftlichen Zertifikatshandel“ geschehen.
Knapp 48 Millionen Quadratmeter nutzbare Dachflächen vorhanden
Und drittens sehen sie ein „Potenzial der Sozialwirtschaft als Energieproduzent“. Denn allein 47.947.934 Quadratmeter nutzbarer Dachflächen stünden zur Verfügung. Dort könnte dank PV „die gesamte Sozialwirtschaft hochgerechnet 4 200 797 Megawattstunden pro Jahr erzeugen. Wenn zuvor energetisch saniert und Wärmepumpen installiert würden, „könnten die Einrichtungen mindestens 70 Prozent der aktuell benötigten Energie selbst herstellen beziehungsweise einsparen“, ist zu lesen.
Doch zuvor sei der Gesetzgeber gefragt. Bislang verlange nämlich die Sozialgesetzgebung, dass Pflege-, Beratungs- oder Betreuungsleistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen. Nun muss das Sozialrecht die Weichen dafür stellen, dass soziale Arbeit künftig auch an nachhaltigen umweltbezogenen und gesellschaftlichen Wirkungen ausgerichtet ist; die Autoren fordern von der Politik konkret „die Öffnung des Sozialrechts für ökologische Nachhaltigkeit“.
Um Sanierungen anzuschieben, sollten „die Leistungsträger den Sozialunternehmen für fünf bis zehn Jahre die Einspareffekte beim Verbrauch von Kohle, Gas und Öl überlassen, die die Unternehmen als Folge ihrer Sanierungen erzielen“. Später würden auch die Leistungsträger – also zum Beispiel Krankenkassen – von den geringeren Energiekosten profitieren.
Nutzen kalkulieren
Ein dritter Schritt sollte der sozialsektorspezifische CO2-Zertifikatehandel auf Grundlage der durch Sozialimmobilien verursachten CO2-Emissionen sein. Damit wäre der Nutzen energetischer Investitionen zu kalkulieren. Und Unternehmen, die bereits investiert und ihre Emissionen reduziert haben, können überzählige Zertifikate statt an den Staat auch an andere Unternehmen veräußern, die noch weitere Zertifikate benötigen.
Fakt ist auf jeden Fall, auch wenn öffentlich kaum drüber gesprochen wird: Die Gesundheits- und Sozialwirtschaft trägt mit ihrem Gesamtumsatz von 185 Milliarden Euro (Zahl von 2021) mehr als 5 Prozent zur gesamten Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik bei, so die Autor*innen des Papiers. Und „der Wille, volkswirtschaftliche, gesellschaftliche Kosten in Milliardenhöhe zu vermeiden und die Emissionen schnellstmöglich zu reduzieren, ist vorhanden“, bekennen sich unisono die Mitgliedsunternehmen der sozialwirtschaftlichen Verbände zu ihrer ökologischen Verantwortung, insbesondere Diakonie, Caritas, Arbeiterwohlfahrt (AWO), Rotes Kreuz, Lebenshilfe, Paritätischer Wohlfahrtsverband, BPA (Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste) und ZWST, ist zu lesen. Einige Organisationen aus diesem Bereich haben sich auch schon ernsthaft aufgemacht, die vier Schritte zur emissionsfreien Gesundheits- und Sozialwirtschaft zu gehen. So hat die AWO das Zieljahr 2040 genannt, der Verband Diakonischer Dienstgeber Deutschlands VdDD das Jahr 2035, und die Caritas will ihre Sozialimmobilien sogar bereits nach 2030 emissionsfrei betreiben. Alle drei hätten das also weit vor der offiziellen Ziellinie der Bundesregierung geschafft: Die hat im Klimaschutzgesetz „Klimaneutralität 2045“ festgeschrieben.
(Heinz Wraneschitz)
Info: Vier Schritte zur Emissionsfreiheit
1. Definition eines eigenständigen Sektorenziels für die Sozialwirtschaft mit Zielmengen an CO2 durch den Bund, in Kombination mit einer Festlegung eines Zielkorridors „Klimaneutralität der Sozialimmobilien“.
2. Integration des Nachhaltigkeitsziels als Grundlage sozialwirtschaftlichen Handelns in das Sozialgesetzbuch. Dies verpflichtet Leistungs-/Kostenträger und Sozialunternehmen, gemeinsam Lösung zur Finanzierung von nachhaltigen Investitionen im Allgemeinen, zu speziellen energetischen Investitionen im Speziellen und zu einer angemessenen Refinanzierung der nachhaltigen Regelarbeit zu suchen.
3. Einführung eines sozialwirtschaftlichen (Emissions-)Zertifikatehandels und Einbindung eines Umfangs einer Zertifikatsmenge sowie korrespondierender Preisziele bis zur Entwertung der Zertifikate.
4. Entwicklung von komplementären gesetzlichen Regelungen, die sozialunternehmerische Schritte bei energetischen Investitions- und vor allem Innovationsstrategien im Bereich der Energieerzeugung zulassen. Hier bestehen Änderungsbedarfe im Gemeinnützigkeitsrecht sowie im Energiewirtschaftsrecht, um Sozialunternehmen die Tätigkeit als Eigenenergieproduzent zu ermöglichen.
(wra)
(Quelle: Refinanzierung Nachhaltigkeit Langfassung KU Eichstätt 2022) https://www.ku.de/fileadmin/18/Projekt_Arbeitsstelle_NPO-Controlling/Refinanzierung_Nachhaltigkeit_Langfassung.pdf
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