Über 8.000.000.000 Kilowattstunden (kWh) Ökostrom wurden laut Informationen des Bundestags im Jahre 2022 durch die Netzbetreiber abgeregelt, mussten den Betreibern aber trotzdem nach den EEG-Bestimmungen vergütet werden. Und diese nicht verfügbare Strommenge steigt Jahr für Jahr weiter.
Die Leistungsfähigkeit vor allem der bestehenden Stromnetze bremst das Einspeisen von Regenerativstrom aus Photovoltaik- (PV), Biostrom- oder Windkraftanlagen (WKA) immer mehr aus. Das betrifft die Verteilnetze in den Regionen, also der 20- oder 110-Kilovolt-Leitungen (kV), genauso wie 220- und 380-kV-Übertragungsnetze.
Denn um diese Spitzen der Ökoenergieerzeugung aufnehmen zu können, fehlen bislang Stromspeicher, ob in Batterien oder durch Wasserstofferzeugung. Die Übertragungsnetzbetreiber greifen meist dort ein, wo es am einfachsten geht: bei großen PV- und Windkraftanlagen. Denn die Erzeugung aus Kohlekraftwerken ist nur schwerfällig ab- und aufregelbar.
Netze zügig ausbauen
Bislang haben Bundesnetzagentur und Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) in trauter Zweisamkeit vor allem den massiven Ausbau der Höchstspannungsnetze gefordert, und der Bundestag ist dieser Forderung fast kritiklos gefolgt. „Ein zügiger Ausbau der Elektrizitätsversorgungsnetze ist notwendig“, heißt es dazu in der Bundestagsmeldung 809 aus dem Jahre 2023. Das ist sehr verkürzend, denn die Verteilnetze finden sich in solchen öffentlichen Diskussionen kaum wieder.
Genauso wenig wurde im vergangenen Jahrzehnt eine Reihe von Studien beachtet, welche die „Elektrotechnische Gesellschaft“ ETG im Elektrotechnikerverband VDE unter dem Begriff „Zellulare Energiesysteme“ erarbeitet und veröffentlicht hat. Würden benachbarte Erzeugungs- und Verbrauchszellen effektiv miteinander verkoppelt, könnte der Austausch untereinander den Ausbau der Übertragungsleitungen massiv reduzieren, so der Tenor der VDE-ETG-Fachleute im Fachausschuss V2.4.
Eine aktuelle Veröffentlichung der VDE-ETG findet dagegen heftigen Widerhall, auch in Deutschlands Medien. Viele Zeitungen oder Onlineplattformen berichten positiv irritiert über die Studie „Höherauslastung von Betriebsmitteln im Netz der Energiewende“. Denn darin steht, kurz zusammengefasst: Mit sehr geringen Kosten und quasi von heute auf morgen lassen sich wesentlich mehr Ökostrom-kWh durch die Leitungen führen; die Abregelung sinkt, mehr Ökostrom wird tatsächlich verbraucht, die fossile Stromerzeugung geht zurück, die sogenannten „Redispatch“-Aufwendungen bei den Netzbetreibern nehmen ab.
Genaues Verständnis nötig
VDE-ETG schlägt „die statische und dynamische Höherauslastung von Betriebsmitteln über den Bemessungsstrom hinaus“ vor; „Das bietet sowohl Netzbetreibern als auch Errichtern neue Potenziale. Durch eine gezielte Auslastung können Engpässe im Netz teilweise kompensiert werden.“ Und gleichzeitig können viel mehr erneuerbare Erzeuger ans bestehende Netz angeschlossen werden. Genau das hat die Politik im Paragrafen 49b des Energiewirtschaftsgesetzes als „temporäre Höherauslastung des Höchstspannungsnetzes“ gefordert. Und selbst neu errichtete Leitungen „zeigen mit gezielter Höherauslastung einen reduzierten ökologischen Fußabdruck, und dies bei erheblich eingesparten Kosten“. Natürlich müsse „die Höherauslastung ausschließlich kontrolliert erfolgen“, mit individuell angepasstem Monitoring und Diagnose für jedes Betriebsmittel, und das möglichst online, so VDE-ETG. In Fallbeispielen zeigen die Autoren, wie diese Höherauslastung bei Transformatoren, Freileitungen, Kabel und Durchführungen umgesetzt werden kann.
Bei Trafos beispielsweise müssen dann die Temperaturen laufend gemessen werden. Leitungsseile können mehr Strom bei kälteren Außentemperaturen führen – witterungsbedingter Freileitungsbetrieb ist hier das Zauberwort. Neue Beseilung sollte nur mit Hochtemperaturleitern erfolgen. Erdkabel sind dauerhaft höher belastbar, wenn man die genaue Wärmeleitfähigkeit des Erdbodens kennt.
Das sind nur ein paar Beispiele. Denn: „Jedes der in diesem Bericht betrachtete Betriebsmittel hat zum Teil erhebliche Reserven in der Strombelastbarkeit.“ Doch unterscheiden sich die Bedingungen für jedes Betriebsmittel anders zu definieren. Deshalb sei „ein genaues Verständnis der physikalischen Gegebenheiten, von der Erwärmung, über die auftretende Alterung, den Ausfallwahrscheinlichkeiten bis zu deren möglichen Folgen“ notwendig.
Die VDE-ETG-Forscher*innen machen aber auch auf Risiken aufmerksam. Es sei „klar zwischen einer zulässigen Höherauslastung innerhalb der Materialgrenzen der Betriebsmittel und einer unzulässigen Überlastung mit inakzeptablen Risiken für Mensch, Umwelt und die Technik zu unterscheiden. In diesem Bericht geht es immer um die Höherauslastung der Betriebsmittel unter Ausnutzung der Materialreserven, günstiger Umgebungsbedingungen und verbesserter Betriebsarten.“
Nach Meinung der Elektrotechnik-Fachleute kann allein die Strombelastbarkeit von Freileitungen um fast das Eineinhalbfache (genau: +140 Prozent) nach oben gelegt werden, ohne dass es Sicherheitsprobleme gibt. Deshalb sollte diese Untersuchung schnellstens in der Praxis genutzt und umgesetzt werden.
Wesentlich billiger
Wobei: auf diesen Trichter hätte man schon vor drei Jahren kommen können. Denn damals hatten Forscher des Fraunhofer-Instituts für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik FHG-IEE die Ergebnisse des Projekts InnoSys2030 – ausgeschrieben: „Innovationen in der Systemführung bis 2030“ – veröffentlicht. An der Studie mitgearbeitet haben unter anderem die vier in Deutschland tätigen Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) Amprion, NetzeBW, Tennet und 50Hertz.
Es ging um die Frage, wie die ÜNB ihre 380- und 220-Kilovolt-Netze besser ausnützen können. So hat FHG-IEE dabei beispielsweise herausgefunden: Durch gleichmäßigere Verteilung der Leistungsflüsse im Übertragungsnetz, durch die Nutzung leistungsflusssteuernder Betriebsmittel wie Phasenschieber-Transformatoren (PST), Serienkondensatoren (TCSC) oder Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ) verträgt das Netz mehr als ursprünglich errechnet.
Doch trotzdem hat sich bis heute am Beschluss des Bundestags und der Maßgabe der Bundesnetzagentur zum Ausbau der Übertragungsnetze (ÜN) nichts Grundlegendes geändert: Mindestens 313 Milliarden Euro Ausbaugeld sieht der aktuelle Netzentwicklungsplan für die ÜN vor. Diese Ausbaukosten wiederum sind ein wichtiger Grund, warum „das durchschnittliche Netzentgelt für die Höchst- und Umspannungsebene 6,65 Cent pro Kilowattstunde im Jahr 2025 betragen soll. Das sind 3 Prozent mehr als in diesem Jahr. Die neuen Zahlen zu den Übertragungsnetzentgelten bestätigen die Befürchtungen der deutschen Wirtschaft“. Das schrieb im Herbst Redakteurin Ariane Mohl im Stadtwerke-Fachportal zfk.de.
Für die Verteilnetze sind dagegen bis 2032 gerade mal 42 Milliarden Euro eingeplant. Und so sind vielerorts die Einspeisemöglichkeiten ins 20-kV-Mittelspannungsnetz so stark überlastet, dass zahlreiche Planer von PV- oder Windkraftwerken eigene Umspannwerke bauen, um direkt auf die obere Verteilnetzebene 110 kV einspeisen zu können.
Dass man die unteren Verteilnetzebenen – ob die am Hausanschluss verlegten 400-Volt- oder die zur Ortsversorgung üblichen 10- oder 20-kV-Kabel und Leitungen – besser ausnutzen kann als bislang üblich, das ist nicht neu und wurde auch schon anderswo eindeutig nachgewiesen. Beispielsweise berichtete die BSZ vor zwei Jahren über ein erfolgreiches Projekt im Stadtwerkegebiet der infra Fürth.
Fest steht: Je weniger Ökostrom abgeregelt werden muss, umso schneller kann die Energiewende erreicht und die klimaschädliche Kohlestromproduktion heruntergefahren werden. Und wird die Studie „Höherauslastung von Betriebsmitteln im Netz der Energiewende“ genutzt, gelingt das wesentlich billiger, als zuerst für mehrere 100 Milliarden Euro die Übertragungsnetze auszubauen. Hierfür bleibt dann mehr Zeit – und es ist weniger Ausbau notwendig.
(Heinz Wraneschitz)
Kommentare (0)
Es sind noch keine Kommentare vorhanden!