Die Forderung nach weitergehender Spezialisierung und Zentralisierung und damit verbunden dem Abbau von Krankenhausstandorten löst nicht die Probleme des Gesundheitswesens. Noch mehr realitätsferne Detailregelungen führen nicht zum Ziel.
BSZ: Herr Kelbel, viele Fachleute sprechen sich für eine Reduzierung der Anzahl der Krankenhäuser in Deutschland aus. Wie stehen Sie dazu?
Michael Kelbel: Verkauft wird dieser Vorschlag immer mit dem Argument, dadurch würde sich die Qualität der medizinischen Versorgung steigern lassen. Wer mehr Operationen von einer Sorte durchführt, der wird diese auch besser beherrschen.
BSZ: Das klingt doch nachvollziehbar. Wie sieht es aber mit der Notfallversorgung aus? Brauchen wir dann mehr Rettungshubschrauber, wenn es weniger Krankenhäuser in der Fläche gibt?
Kelbel: Es muss auf jeden Fall geregelt werden, wie mit zeitkritischen Notfällen, also zum Beispiel Herzinfarkten, Schlaganfällen, Sturzgeburten oder Magenblutungen umgegangen wird.
BSZ: Ein Rettungshubschrauber kann aber bei schlechtem Wetter nicht fliegen. Was dann?
Kelbel: Eine gute Frage, die ebenfalls geklärt werden muss. Bei all den Reduktionsüberlegungen geht es immer nur um ausgewählte Beispiele – ein verschwindend geringer Anteil an den stationären Behandlungen, die in Deutschland jährlich durchgeführt werden. Die Masse der stationären Patienten wäre mit den negativen Auswirkungen von Krankenhausschließungen konfrontiert.
BSZ: Sollte also nach Ihrer Meinung alles beim Alten bleiben?
Kelbel: Naja, wirklich funktionieren tut das heutige System ja nicht mehr. Oder wie ist es zu bewerten, wenn mehr als die Hälfte der Krankenhäuser Verluste einfahren? Es gibt schon gute Gründe, über eine Strukturreform nachzudenken. Spätestens mit Blick auf Corona und Klima sollte klar sein, dass für das Gesundheitswesen nicht mehr Geld zur Verfügung stehen kann und wird als heute. Doch wie sollen dann die Herausforderungen der Digitalisierung und des medizinischen Fortschritts gemeistert werden? Und auch der Fachkräftemangel schränkt heute bereits die Qualität der Versorgung ein. Und das, obwohl wir heute bezogen auf alle Erwerbstätigen unseres Landes schon mehr Arbeitskräfte in Medizin und Pflege binden, als dies andere entwickelte Länder tun. Es scheint also, dass es nicht zu wenig Fachkräfte, insbesondere in der Pflege, gibt, sondern zu viele stationäre Patienten. An einer echten Strukturreform führt also wohl kein Weg vorbei.
BSZ: Und wie sollte dann diese neue Versorgungsstruktur aussehen?
Kelbel: Ich fürchte, die Frage muss eher lauten, ob die Verantwortlichen aus Bundespolitik und Krankenkassen überhaupt an einer Strukturreform interessiert sind. Denn man muss den Eindruck bekommen, dass deren Ziel bereits klar definiert ist. Denn sie arbeiten konsequent und mit allen Mitteln, die das aktuelle Finanzierungssystem hergibt, daran, die Anzahl der Krankenhäuser zu reduzieren. Blaupause dafür ist Dänemark. Dort wurden die Krankenhäuser von rund 100 auf ein Drittel reduziert. Aber Deutschland ist nicht Dänemark. Wir haben eine völlig andere Ausgangslage. Auch Gutachten, die Simulations-Ergebnisse aus der Großregion Köln in einer einfachen Dreisatzrechnung auf das gesamte Bundesgebiet übertragen, blenden einen Großteil wichtiger Fragestellungen aus.
BSZ: Bedeutet das, die Strukturreform ist bereits in vollem Gange?
Kelbel: Ich würde nicht von einer Strukturreform sprechen. Denn eine Reform würde eine öffentliche, zumindest offene Diskussion, die Suche nach einem Konsens und am Ende eine Verlautbarung des gefundenen Ergebnisses erfordern. Man dürfte auch erwarten, dass diese neue Struktur dann als Sollvorgabe irgendwo in einem Gesetz oder zumindest in einer Gesetzesbegründung nachlesbar wäre. Doch nichts von alledem hat stattgefunden. Deshalb sprechen wir Krankenhausvertreter ja auch von einer kalten Strukturbereinigung. Diese Ausdrucksweise empfinde ich jedoch noch als sehr zurückhaltend.
„Wir haben es hier mit einer perfiden, zutiefst unehrlichen und letztlich auch gefährlichen Vorgehensweise zu tun“
BSZ: Ich höre heraus, dass Sie die Vorgehensweise als falsch empfinden.
Kelbel: Vielleicht ist falsch nicht das richtige Wort. Das hängt letztlich davon ab, aus wessen Perspektive man das betrachtet. Doch wir haben es hier mit einer perfiden, zutiefst unehrlichen und letztlich auch gefährlichen Vorgehensweise zu tun. In Dänemark war die Strukturreform Ergebnis eines gesellschaftlichen Diskurses. Bei uns werden die verfügbaren Instrumente aus dem Baukasten der Gesundheitsgesetzgebung missbraucht, um die Reduzierung der Krankenhausstandorte zu erreichen. Dabei ist dies weder ein konsentiertes, noch ein den Bürgern kommuniziertes Ziel. Unter dem vorgeschobenen Argument der Qualität werden immer neue Vorgaben erlassen und bestehende Vorgaben neu interpretiert. Alles mit dem Ziel, die Latte noch ein Stück höher zu legen und es den Krankenhäusern möglichst schwer zu machen, darüber zu springen. Natürlich wird so am Ende das Ziel erreicht, die Anzahl der Krankenhäuser zu reduzieren. Doch auf dem Weg dorthin werden unendliche Steuer- und Versichertengelder verschwendet und das Ergebnis wird alles andere als eine flächendeckende Versorgung sein, die dem Verfassungsziel gleichwertiger Lebensverhältnisse für alle Bürger gerecht wird.
BSZ: Wieso das?
Kelbel: Bei dieser Vorgehensweise werden nur die Krankenhäuser überleben können, die finanziell bei dem von den Krankenkassen veranstalteten Wettrüsten mithalten können. Da werden viele Krankenhäuser auf der Strecke bleiben. Das sind mitnichten nur Krankenhäuser, die es für eine flächendeckende Versorgung nicht braucht. Und es sind nicht nur die kleinen Krankenhäuser, die die letzte Bastion der Gesundheitsversorgung in dünn besiedelten Gebieten darstellen und für die im Moment über eine Finanzierung der sogenannten Vorhaltekosten nachgedacht wird.
BSZ: Wie könnte man es besser machen und was sagen die Krankenhäuser selbst dazu?
Kelbel: Die Krankenhäuser reagieren immer nur, anstatt zu agieren. Ich fürchte, man muss das Problem bei der Wurzel anpacken. Es gibt keine zwischen allen betroffenen Parteien konsentierte Versorgungsstruktur für unser Land. Wie viele Krankenhäuser braucht es, wo und wie groß sollen diese sein und welche Aufgaben soll das einzelne Krankenhaus wahrnehmen. Wie soll die Aufgabenverteilung zwischen den Sektoren, beispielsweise in der Notfallversorgung, aussehen? Die momentan verfolgte Strategie der reinen Reduzierung von Krankenhausstandorten ist nicht ausgereift und falsch. Das zweite große Problem ist das Krankenhaus-Finanzierungssystem und die hinter diesem System stehenden Ziele.
BSZ: Können Sie das etwas genauer erklären?
Kelbel: Das Fallpauschalensystem verfolgt grundsätzlich das Ziel, den Krankenhäusern für eine Behandlung nur so viel Geld zu bezahlen, wie das wirtschaftlichste Krankenhaus in Deutschland für diese Behandlung braucht. Dieses Ziel ist aus marktwirtschaftlicher Sicht nachvollziehbar, fördert den Wettbewerb und sorgt am Ende dafür, dass nicht zu viel Geld ausgegeben wird. Soweit die Theorie. Doch was nicht berücksichtigt wird ist, dass nicht jedes Krankenhaus die Möglichkeit hat, diese wirtschaftlichen Strukturen herzustellen. Seien es zu geringe Patientenzahlen, die eine wirtschaftlich optimale Betriebsgröße verhindern oder die fehlende Möglichkeit, Aufgaben kostenoptimierend an eine zentrale Verbundorganisation abzugeben. Mit rein marktwirtschaftlichen Prinzipien wird eine Aufgabe der Daseinsvorsorge nicht lösbar sein.
„Mit rein marktwirtschaftlichen Prinzipien wird eine Aufgabe der Daseinsvorsorge nicht lösbar sein“
BSZ: Das klingt ja nach einer riesigen Aufgabe. Wie soll das gehen?
Kelbel: Alles auf Null. Wir brauchen den großen Reset. Wir brauchen eine Diskussion über die Ziele im Gesundheitswesen, wir brauchen eine angepasste Versorgungsstruktur und wir brauchen ein dafür passendes, neues Finanzierungssystem. Kein Herumdoktern am bestehenden System. Das ist am Ende immer nur eine Verschlimmbesserung.
BSZ: Das klingt nach einem langen Prozess.
Kelbel: Wir standen in Deutschland schon einmal vor einer so großen Aufgabe und haben diese mit Bravour gelöst. 1948/49 haben der Verfassungskonvent und der Parlamentarische Rat in einem halben Jahr eine neue Verfassung für unser Land ausgearbeitet. Dann sollte es doch gelingen, in einer ähnlichen Zeit eine neue medizinische Versorgungsstruktur für unser Land zu entwickeln. Ich hätte nur eine große Bitte.
BSZ: Und die wäre?
Kelbel: Während dieses Prozesses sollte es ein Moratorium für die Krankenhäuser geben. Wenn schon erkannt ist, dass das heutige Finanzierungssystem verantwortlich für die miserable wirtschaftliche Situation der Krankenhäuser ist, dann wäre es nur fair, den Krankenhäusern solange eine Finanzierung der tatsächlichen Kosten zu garantieren, bis eine neue Versorgungsstruktur und ein neues Finanzierungssystem verabschiedet sind.
BSZ: Das klingt am Ende ja gar nicht so schwierig.
Kelbel: Stimmt. Aber es erfordert den Willen, sich mit dem Thema in der Tiefe auseinanderzusetzen und den Mut, politische, also planerische Vorgaben zu machen, die ganz sicher nicht nur auf Gegenliebe stoßen werden. Denn machen wir uns nichts vor: Eine Systemveränderung wird in viele vorhandene und möglicherweise lieb gewordene Strukturen vor Ort eingreifen. Ein „Wasch mich, aber mach mich nicht nass“ wird wohl kaum herauskommen. Und damit liegt die Verantwortlichkeit für diese Veränderungen bei der Politik und den Politikern. Das ist schon etwas anderes, als die heutige Vorgehensweise der kalten Strukturbereinigung. Da kann der Bürger erst einmal niemanden ausmachen, der schuld daran ist, dass „sein“ Krankenhaus geschlossen werden muss. Oder zumindest wird der Schuldige mit großer Wahrscheinlichkeit an der falschen Stelle gesucht.
BSZ: Dann bleibt ja nur zu hoffen, dass unsere Politiker diesen von Ihnen geforderten Mut aufbringen.
Kelbel: Das wünsche ich den Bürgern auch. Denn letztlich verfolgen die Krankenhäuser ja keinen Selbstzweck. Und für die Politik wäre diese transparente Vorgehensweise auch eine Möglichkeit, wieder etwas von dem verlorenen Vertrauen zurückzugewinnen.
(Interview: Ralph Schweinfurth)
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