Wohl keine weitere wissenschaftliche Institution begleitete die Dorferneuerung so intensiv wie der Lehrstuhl für Bodenordnung und Landentwicklung an der Technischen Universität München. Sein 50-jähriges Bestehen wurde jetzt mit einer Festveranstaltung im Beisein von Bayerns Wissenschaftsminister Markus Blume (CSU) gewürdigt.
BSZ: Herr Magel, was war vor 50 Jahren die Intention zur Gründung des Lehrstuhls für Bodenordnung und Landentwicklung?
Holger Magel: Die Flurbereinigung im damals noch stark agrarisch geprägten Bayern wandelte sich Anfang der 1970er-Jahre immer mehr zur ländlichen Neuordnung und integrierte zunehmend außeragrarische Aspekte wie Raumordnung, Bauleitplanung, Naturschutz, Landschafts- und Denkmalpflege, Erholung und vor dem Hintergrund der engen agrarwirtschaftlichen Zusammenhänge zwischen Hofstelle und Flur auch die Siedlungen. Das neue Flurbereinigungsgesetz von 1976 machte diese Entwicklung amtlich: Es ging nun um die Verbesserung der Arbeits- und Produktionsbedingungen in der Land- und Forstwirtschaft sowie um die Förderung der allgemeinen Landeskultur und der Landentwicklung. Maßnahmen der Dorferneuerung gehörten damit auch zum Portfolio der Flurbereinigung. Die Flurbereinigungsingenieure und ihre Partner mussten aber für diesen komplexer gewordenen Auftrag in Lehre und Forschung systematisch aus- und fortgebildet werden. Dies war bis dato nicht der Fall. Auch mussten angesichts der Vielzahl neu zu berücksichtigender Disziplinen und Einzelaspekte neue Vorlesungsangebote sowie entsprechende Theorien und Methoden entwickelt werden wie Netzplantechnik oder Systemtheoretische Siedlungsplanung, die eine interdisziplinäre, also mit anderen Lehrstühlen verbundene Forschung erforderten.
BSZ: Wo konnte man in den vergangenen Jahrzehnten politische Akzente setzen?
Magel: Da kann ich ein sehr schönes Beispiel nennen: Der Lehrstuhl erhielt sehr schnell zahlreiche Forschungsaufträge vom Bund und vom bayerischen Landwirtschaftsministerium, darunter den weitsichtigen Großauftrag zur Dorferneuerung – ein Jahr, bevor die Dorferneuerung gesetzliche Aufgabe der Flurbereinigungsverwaltung wurde! Bei dieser auch in Deutschland erstmaligen Dorferneuerungsforschung ging es tatsächlich um alles, um das dörfliche Leben und Arbeiten schlechthin: Was ist Dorferneuerung, welche Aspekte müssen bei der Planung berücksichtigt, welche Disziplinen beteiligt werden, wie beurteilt man, ob eine Dorferneuerung überhaupt notwendig und sinnvoll ist. Dazu haben wir am Lehrstuhl die Groborientierungsmethode entwickelt. Sie konnte ich Jahre später im Ministerium anwenden, als der Bayerische Landtag 1981 das Bayerische Dorferneuerungsprogramm beschlossen hat und Parlament und Staatsregierung zur Abschätzung des Finanzbedarfs wissen wollten, wie viele Dörfer in Bayern denn überhaupt eine Dorferneuerung dringend bräuchten. Hier kam nun die Groborientierung zum Einsatz: In Zusammenarbeit mit allen betreffenden und darüber nicht durchwegs begeisterten Ministerien wurden über 14 000 Dörfer unter 2000 Einwohnern anhand der Kriterien der Groborientierung untersucht. Das Ergebnis war: 5000 Dörfer! Das war fortan die magische Zahl für alle Abgeordneten, Beamten und Haushaltsverhandlungen. Es sind natürlich längst mehr Dörfer geworden.
BSZ: Wie gestaltete sich konkret die Mitwirkung an Prozessen der Raumordnung?
Magel: Konkret kann der Lehrstuhl nicht an offiziellen Raumordnungsprozessen der Landesplanung mitwirken, aber als angeforderter Professor oder/und Mitarbeiter waren ich und mein Team direkt an Landkreisentwicklungsprozessen in Dachau, Miesbach, Freising, Regensburg, Neumarkt/OPf., Kitzingen et cetera beteiligt oder – räumlich umfassender – beim Entwicklungsgutachten für die Region 18 Südostoberbayern. Indirekte Mitwirkung erfolgte natürlich via Forschungen über „Kooperationen von Stadt und Land – Potenziale der Integrierten Ländlichen Entwicklung“ oder „Die Rolle der Integrierten Ländlichen Entwicklung in der räumlichen Entwicklung“; Mitwirkung auch als jahrzehntelanges Mitglied des Landesplanungsbeirats, ja sogar des Beirats für Raumentwicklung auf Bundesebene oder als Experte bei Landtagsanhörungen und als Gutachter und Berater. Hier nenne ich beispielhaft das Gutachten: „Strukturschwache Ländliche Räume in Bayern. Strategien zur Wirtschafts- und Regionalentwicklung“. In dieser Studie scheint erstmals die Grundidee zum später in der Enquetekommission „Gleichwertige Lebens- und Arbeitsbedingungen in ganz Bayern“ weiterentwickelten Modell der Räumlichen Gerechtigkeit auf. Gerade die Mitwirkung in dieser Enquetekommission war ein besonders intensiver Prozess der Raumordnung, denn es ging ja ständig um nachhaltige Landesentwicklung!
BSZ: In welcher Form nahmen die Wissenschaftler an parlamentarischen Kommissionen teil?
Magel: Wie oben erwähnt, war ich sehr häufig, oft auch mit Doppelhut (Ordinarius und Präsident der Akademie Ländlicher Raum) bei Anhörungen im Bayerischen Landtag tätig, zuletzt 2022 bei der Anhörung des Umweltausschusses zum Moorschutz. Meist ging es aber um die nachhaltige Landesentwicklung und Landesplanung oder um das Flächensparen. Aufwand und Ertrag lagen da oft weit auseinander. Man brauchte angesichts manchen Widerstands der Abgeordneten der Regierungsparteien eine hohe Frustrationstoleranz. Die vierjährige Mitarbeit in der vorerwähnten parlamentarischen Enquetekommission – hier schon als TUM Emeritus of Excellence – war dagegen ein unvergessliches Erlebnis: Hier gab es kein Gefälle zwischen Volksvertretern und Experten, hier nahm jeder den anderen ernst und hörte ihm zu. Die Vorschläge der Wissenschaftler wurden intensiv diskutiert und am Schluss auch vielfach akzeptiert. So entstand das Konzept der Räumlichen Gerechtigkeit, die nun im neuen LEP erwähnt ist als ethische Grundlage der bayerischen Landesentwicklung und längst ein Exportartikel im Ausland (Polen, China, Kambodscha, Spanien, Namibia) und innerhalb der International Federation of Surveyors (FIG) geworden sind.
BSZ: Wie haben sich die Akzente der wissenschaftlichen Arbeit verschoben, wo liegen die aktuellen Schwerpunkte?
Magel: Die Akzente haben sich mit Walter de Vries noch einmal gewaltig ins Internationale und Technologische verschoben. De Vries kam von dem berühmten International Institute for Geo-Information Science and Earth Observation in Enschede, einer Fakultät der Universität Twente und seit seiner Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg eine attraktive Ausbildungsstätte für die ganze Welt, insbesondere für Entwicklungsländer. Entsprechend ist de Vries viel gefragt und global unterwegs. Er führt den von mir aufgebauten Schwerpunkt Land Management und den gleichnamigen Studiengang um GIS Ausrichtung ergänzt fort und widmet sich zum Beispiel in der Forschung der Entwicklung von Normen und Bewertungsinstrumenten für ein nachhaltiges und verantwortungsvolles Landmanagement. Es geht ihm auch um die Einbettung neuer Technologien in Landmanagementprozesse (Stichwort Einsatz der Blockchain-Technologie für die Landregistrierung am Beispiel Ghana) oder um den Einsatz von Fernerkundung, künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen zur Erkennung von Veränderungen der Vitalität ländlicher Regionen. Hier haben Wissenschaftler aus Deutschland, Polen, Spanien und sogar Japan zusammengearbeitet.
BSZ: Wie arbeitet man mit Akteuren wie etwa Gemeindetag oder Städtetag zusammen?
Magel: Der Lehrstuhl hat von Anfang an als „Kind der Verwaltung“ ein großes Netzwerk zur Praxis aufgespannt und viele Beziehungen aufgebaut, ob das nun die Gemeinden waren, die ja die Hauptpartner und Kunden der Ländlichen Entwicklung sind, und in denen die Studenten Feldübungen, Diplom- und sogar Doktorarbeiten machen konnten, oder ob es innovative Bürgermeister, Experten aus ganz Deutschland, Professoren aus dem In- und Ausland oder freie Planer waren, die zu Seminaren oder zu den weithin bekannten Münchner Tagen der Bodenordnung und Landentwicklung als Gäste oder als Mitwirkende kamen; auch waren Spitzenvertreter des Gemeindetags regelmäßig zu Gastvorlesungen eingeladen oder zu Workshops im Rahmen von Forschungsvorhaben. Gegenwärtig ist der Pressesprecher und Baurechtsexperte des Gemeindetags Matthias Simon Lehrbeauftragter am Lehrstuhl. Auch Hans Eckard Sommer, heute Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, war jahrelang unser Lehrbeauftragter. Entsprechendes gilt für den Kontakt mit bayerischen Ministerien, in denen mittlerweile ehemalige Lehrstuhlmitarbeiter als hohe Ministerialbeamte arbeiten. Eine besondere Sache sei noch angemerkt: Viele Mitarbeiter*innen des Lehrstuhls haben als Moderatoren an der Schule der Dorf- und Landentwicklung Thierhaupten gewirkt und ihre dort gewonnenen Erfahrungen an ihre Student*innen zurückgegeben.
BSZ: In welcher Form hat sich der Lehrstuhl internationalisiert und ausländische Forscher eingebunden?
Magel: Der Lehrstuhl war schon unter Richard Hoisl international tätig, vor allem über seine Funktion in der FIG. Diese Internationalität wurde noch gesteigert, als ich den internationalen Studiengang Land Management gründete und viele Student*innen aus aller Welt an die TUM holte. Zudem machte ich den Lehrstuhl als FIG Präsident weltweit bekannt – die Folge waren viele Besuche von Rektoren, Professoren, Politikern und Kollegen aus aller Welt. Der Lehrstuhl arbeitete und arbeitet mit Universitäten in Polen, Slowenien, Indonesien, China, Kambodscha, Philippinen, Mongolei, Chile, Namibia, Kenia et cetera zusammen.
BSZ: Sie haben ein Leben lang für einen vitalen ländlichen Raum gekämpft. Wie sehen Sie seine Zukunft?
Magel: „Das Land hat Zukunft“ war die Botschaft eines Buches von Alois Glück und mir vor über 30 Jahren. Damals wie heute gilt: Die Zukunft des ländlichen Raumes hängt maßgeblich von zwei Akteursgruppen ab: einerseits von Politik und Politikern in Bund und Ländern, die die richtigen Ideen, Konzepte und (Förder)Instrumente anbieten müssen, um den ländlichen Raum in Richtung Gleichwertigkeit zu entwickeln; es wurde schon vieles erreicht, aber es gibt nach wie vor erhebliche Defizite, insbesondere bei den (über)lebensnotwendigen Infrastrukturen wie Mobilitätssysteme, IT-, Nah- und Krankenversorgung et cetera; andererseits hängt die Zukunft des Landes, ja sogar unserer Demokratie von aktiven Kommunen, Wirtschaftstreibenden und generell den Bürgern und Bürgerinnen ab, die die Zukunft ihrer Heimat und Bürgergesellschaft selbst in die Hand nehmen und gemeinsam Visionen entwickeln müssen. Ideal helfen kann ihnen hierbei insbesondere die Ländliche Entwicklung, die auch längst an Resilienz- und Transformationsstrategien im Zeichen unserer vielen Krisen arbeitet. Die Wissenschaft schließlich soll dreierlei: mögliche Zukünfte in Szenarien vorausdenken und neue Theorien und Methoden entwickeln sowie zweitens studentischen Nachwuchs, Praxis und Praktiker in Lehre, Tagungen und Berichten kommentieren, informieren und weiterbilden und drittens abgeschlossene Projekte evaluieren, um daraus Nutzen für künftiges Handeln zu ziehen – also all das, was der jubilierende Lehrstuhl in den letzten 50 Jahren recht erfolgreich getan hat.
(Interview: André Paul)
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